Wochenbericht 35

Inflation - das unbekannte Wesen

Die US-Notenbank hat Inflation als Zielgröße ihrer Geldpolitik nun auch offiziell abgeschafft. Nun ist die Förderung des Wirtschaftswachstums das einzige Ziel.

Stuttgart, 29. August.

Jedes Jahr treffen sich die Notenbänker der Industriestaaten zu einer Fachtagung in Jackson Hole, dieses Jahr aus gegebenem Anlass virtuell. Der übliche fachliche Austausch in kleinen Gesprächsrunden unterbleibt also. Statt dessen wird das Format zur Verkündigung strategischer Leitlinien jenseits der regelmäßigen, taktisch geprägten Verkündigung der Zinsentscheide genutzt.

Damoklesschwert: Rückführung der Rekordverschuldung

Alle Industriestaaten haben sich seit dem Frühjahr über alle Maßen verschuldet. Ein Ende ist nicht absehbar (s.u.). Die Schuldentragfähigkeit der westlichen Welt wird ausschließlich durch die Null- bzw. Negativzinspolitik der Notenbanken gewährleistet.

Auch wenn die Notenbanken formal unabhängig sind, haben die Repräsentanten politische Ämter. Ihr primäres Ziel ist, Unternehmen, Steuerzahler und Finanzmarktteilnehmer zu überzeugen, dass ihre Geldpolitik nachhaltig ist. Dazu ist jedes Mittel recht. Das zeigt das Eingangsstatement von Jaw Powell, dem derzeitigen FED-Vorsitzenden.

Dieser verkündete zum Auftakt der Jahrestagung nichts weniger als einen nahezu unbegrenzten Aufschub der Frist zur Rückführung der Staatsverschuldung. Nichts anderes bedeutet letztlich die Abkehr vom bisherigen Inflationsziel. In der Vergangenheit bemühte sich die FED, eine Inflation von 2 Prozent sicherzustellen. Zukünftig toleriert sie höhere und auch niedrigere Inflationsraten, orientiert ihre Geldpolitik allein am zweiten geldpolitischen Ziel, der Förderung des Wirtschaftswachstums.

Im Umkehrschluß bedeutet dies: Staatsverschuldungen zwischen 100 und 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind die neue Normalität.

Niemand muss fürchten, dass die Steuern angehoben werden, nur weil der Staat seine Schuldenlast reduzieren muss, verspricht Powell. Mehr noch: Die US-Notenbank hat so viel Vertrauen in die Instrumente ihrer Geldpolitk, dass man größere Schwankungen der Inflation tolerieren kann. Das ist eine weitere Kernbotschaft Powells.

Bedeutungsverlust der Kennzahl Inflation

Wikipedia definiert Inflation wie folgt

Inflation (von lat. inflatio „Aufblähen“, „Anschwellen“) bezeichnet in der Volkswirtschaftslehre eine allgemeine und anhaltende Erhöhung des Preisniveaus von Gütern und Dienstleistungen (Teuerung), gleichbedeutend mit einer Minderung der Kaufkraft des Geldes.

In Deutschland ist der Begriff Inflation mit der kollektiven Erinnerung an die Phasen exzessiver Geldentwertung nach den beiden Weltkriegen und der Stagflationsperiode in den 1970er Jahren verknüpft. Wir schauen mit Abscheu nach Venezuela und Verachtung auf die Tolerierung einer zweistelligen Inflation in der Türkei. Die Unfähigkeit, die Inflation in Argentinien einzuhegen, interpretieren wir als Mißwirtschaft eines kaum funktionierenden Staats.

Tatsächlich flackert Inflation stets auf, wenn eine volkswirtschaftliche Störung vorliegt. Die Knappheit des Zahlungsmittels hat hierauf einen untergeordneten Einfluß. Genauso hat ein Überangebot des Zahlungsmittels allein keine inflationäre Wirkung.

Spätestens seit der Finanzkrise ist nicht Inflation das zentrale Thema der Geldpolitik, sondern deren Abwesenheit bzw. Deflation, also negative Inflation. Trotz Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, stagnierender Produktivität und steigenden Lohnkosten in Verbindung mit einer Nullzinspolitik der Notenbanken steigen weder Lohnstückkosten noch Verbraucherpreise auf breiter Front. Schaut man genauer, dann setzte diese Entwicklung bereits in den 1990er Jahren ein, dem Beginn der Digitalisierung.

Seitdem begründen die Notenbanken der Industriestaaten die stetige Lockerung der Geldpolitik mit dem permanenten Verfehlen des Inflationsziels. Die zirkulierende Geldmenge weitet sich beständig aus. So alt wie die Niedrigzinspolitik ist die Vermutung von Kritikern, dass die offiziellen Inflationszahlen nicht aussagekräftig sind. Man verweist in diesem Zusammenhang auf die Vermögenspreisinflation. Vermögenswerte sind nicht Bestandteil des Warenkorbs für die Ermittlung der Verbraucherpreisindizes, die Basis für die Ermittlung der aktuellen Inflation sind.

Immer wieder wurde gefordert, beispielsweise Immobilienpreise in die Ermittlung der Inflationsdaten einzubeziehen. Die Standardantwort der Statistiker: Mietpreise sind im Warenkorb enthalten, eine Einbeziehung von Vermögenswerten verändert die Aussagekraft der Kennzahl in einem untolerierbarem Maße.

Die Maßnahme der FED stützt die Argumentation der Kritiker. Die Verbraucherpreisinflation in dieser Form ist in der Vergangenheit offensichtlich überinterpretiert worden.

Müssen alternative Kennzahlen her?

Eine Notenbank ist nunmal kein Wirtschaftsministerium. Deshalb kann eine Notenbank sich nicht ausschließlich dem Wirtschaftswachstum verpflichtet fühlen. Eine zentrale Aufgabe einer Notenbank ist es, gesetzliche Zahlungsmittel in ausreichendem Umfang bereitzustellen und für deren Wertstabilität zu sorgen. Wenn die Inflation als Kennzahl aufgegeben wird, welche Kennzahlen dienen der Notenbank dann als Richtgrößen zur Bestimmung der Wertstabilität der ausgegebenen Münzen?

Geht es nach den Anhängern der Modern Money Theory, dann kann man jedoch gänzlich auf Inflation als Zielgröße verzichten. Solange sich ein Staat an den Kapitalmärkten zu Konditionen verschulden kann, die seine Schuldentragfähigkeit gewährleisten, kann sich die Notenbank auf die Kennzahl Wirtschaftswachstum beschränken. Falls die Kapitalmärkte das Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit eines Staates verlieren und höhere Zinsen fordern, ist es die Aufgabe der Notenbank, die Kapitalmärkte vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Scheitern der Notenbanken ist in dieser Denkschule nicht vorgesehen.

FED auf Trump-Kurs

Im Grunde ist die Entscheidung, das Inflationsziel zu beerdigen, ein Kniefall vor den Attacken von Donald Trump. Der wird nicht müde, die FED auf ihre Aufgabe zu reduzieren, durch möglichst niedrige Zinsen das Wirtschaftswachstum zu maximieren. Auffällig: Auch hier fehlt eine Vorstellung, was Maximal eigentlich ist. Wir wohnen also einem Experiment mit ungewissem Ausgang bei.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass auch der Monetarismus, die vorherrschende Form der Geldpolitik im Nachkriegs-Europa, eine heterogene Erfolgsbilanz in der Konjunktur- und Inflationssteuerung hatte. So erhöhte die Bundesbank im Jahr 1965 den Discountsatz um die Inflation zu bekämpfen, die – wie in den Nachbarländern bereits geschehen – über die Lohnentwicklung auf die Verbraucherpreise durchzuschlagen drohte.

Abbildung 1: Lohn- und Preisentwickling in Europa, Aus: BIS Jahresbericht, Basel.1965

Bereits 12 Monate später schlitterte die BRD in eine Rezession. Hierfür wurde die Zinspolitik der Bundesbank verantwortlich gemacht.
Zwischen dem 1.8.1970 und dem 30.6.1971 schöpfte eine Konjunkturabgabe von 10 Prozent auf die Lohn-, Einkommens- und Körperschaftssteuern 5,9 Mrd. DM ab. Das Geld wurde vor der Sommerreisesaison 1972 en bloc zurückgezahlt. Die Inflation sank kurz, um dann 1972 mit voller Wucht zurückzukehren. In Frankreich wurde 1974 eine Konjunkturabgabe explizit zur Dämpfung der Inflation beschlossen und angewandt. Nachhaltig beeinflussen konnten die Maßnahmen weder das Wirtschaftswachstum noch die Inflationsentwicklung. Die Maßnahmen hatten jedoch kurzfristige Wirkungen (vorwiegend negativ).

Im Jahr 2020 ist Monetarismus ein Anachronismus aus längst vergangener Zeit. Die Experimentierfreude der Notenbanken ist jedoch ungebrochen. Uns so wohnen wir nun dem Experiment eines symmetrischen Inflationsziels bei, dass streng genommen nur auf dem Papier existiert.

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… so übertitelt LEX, die Meinungsseite der FT einen Beitrag, der sich mit den ausbleibenden Unternehmenspleiten insbesondere in den USA und den trotz akuter Wirtschaftskrise extremen Marktbewertungen für Aktiengesellschaften beschäftigt.

Im Zentrum steht folgende Graphik.

Abbildung 2: Entwicklung von Barmitteln, Erträgen (Ebitda) und Verschuldung von Unternehmen des S&P 500 (Quelle: FT)

Man erkennt sehr gut, dass die Verschuldung der Staaten (s. Wochenbericht 26) auf die Unternehmen übergesprungen ist. Genauer: Nicht nur die Staaten sind historisch verschuldet, gleiches gilt auch für Unternehmen. Die Erträge stagnieren jedoch bei beiden..

LEX leitet aus dieser Entwicklung eine Zunahme von Zombie-Unternehmen ab, die nur dank der Notenbankunterstützung ihre Zinskosten aufbringen können. Finanzmarktteilnehmer ficht dies nicht an. Sie erkennen, dass es den Unternehmen gelungen ist, sich in einer akuten Krisensituation zu Rekord(niedrig)zinsen zu refinanzieren und interpretieren dies als Risikokennzahl (niedrige Zinsen = niedrige Risiken). Selbst die historisch niedrigen Dividendenrenditen halten die Anleger nicht vor dem Griff zu Eigenkapital (Aktien) ab. Die Risikoaufschläge von Aktien haben sich denen von (Investmentgrade) Anleihen abgeglichen — die tatsächlichen Risiken sind jedoch unverändert – solange die Geldwertstabilität erhalten bleibt.

Weiter steigende Aktienpreise könnten einen Test der neuen Strategie der US-Notenbank ankündigen, in dem die Finanzmärkte ausprobieren, bis zu welcher Inflation die aktuelle Geldpolitik tatsächlich unverändert beibehalten wird..

Die Woche an den Finanzmärkten

  • Deutschland: Erster Green Bond.
    Das deutsche Finanzministerium gab am Donnerstag bekannt, eine grüne Staatsanleihe im Volumen von 6 Mrd. € und einer Laufzeit von 10 Jahren zu emittieren. Weitere Emissionen mit Laufzeiten von 5 und 30 Jahren.
    Deutschland folgt Frankreich (2017), Holland, Irland und Polen. Die Emission wird dennoch mit Spannung verfolgt, weil die grünen Staatsanleihen wie ihre normalen Kollegen einen Standard für Europa setzen könnten und den Referenzzins für risikolose grüne Anleihen abbilden. Andere Produkte definieren ihr Risiko dann wie gewohnt über den Zinsabstand zur Referenz.

  • Frankreich: Kommunikation ist Trumpf.
    Angesichts exponentiell ansteigender Corona-Neuerkrankungen hielt es Bruno de Maire, der französische Finanzminister, für gegeben, ein ausgesprochen optimistisches Pressestatement abzugeben: 2021 wird man ein weiteres Konjunkturprogramm über 100 Mrd. € auflegen (60 Mrd. € eigene Schulden, 40 Mrd. € von der EU). Zusätzlich wird man die Unternehmenssteuern dauerhaft um mindestens 10 Mrd. € senken. Beides wird das Wirtschaftswachstum derart anschieben, dass sowohl die Mindersteuereinnahmen wie auch die eigene Schuldenaufnahme innerhalb von 5 Jahren über Steuermehreinnahmen refinanziert sind.
    In Frankreich erhalten gegenwärtig etwa 45 Prozent aller abhängig Beschäftigten staatliche Lohnzuschüsse. Unternehmen hat der Staat 300 Mrd. € an Kreditbürgschaften gewährt. KMU’s können ihre Liquidität durch staatliche Beteiligungen bis zu sieben Jahre sicher stellen. All dies ist scheinbar nicht ausreichendgewährt. KMU’s können ihre Liquidität durch staatliche Beteiligungen bis zu sieben Jahre sicher stellen. All dies ist scheinbar nicht ausreichend.

  • Mark Carney organisiert Impact Fund für Brookfield.
    Der frühere Vorsitzende der Bank of England hat bei der kanadischen Beteiligungsgesellschaft Brookfield angeheuert. Dort solle er eine neue Assetklasse erfinden.
    Beim Impact Funding stehen Renditen hinten an. Wesentliche Ziele sind maximaler Hebel für dringend erforderliche gesellschaftliche Veränderungen, in diesem Falle Klimaschutz.
    Carney ist gleichzeitig als Sonderbotschafter der UN mit der Vorbereitung des nächsten Klimagipfels in Glasgow betraut.
    Brookfield erfindet sich gerade neu. Der Verwaltungsrat wurde fast völlig neu besetzt. Offenbar stehen viele der langjährigen Beteiligungen zur Disposition. Das Beteiligungsportfolio umfasst Assets im Wert von 550 Mrd. $.

  • Neuseeland: Börsenhandel wegen Hackerangriff unterbrochen.
    In der vergangenen Woche konnte nur sporadisch an der NZX, der neuseeländischen Börse gehandelt werden. Immer wieder wurde der elektronische Handel durch massive Hackerangriffe gestört. Die Angreifer hatten ihre Attacken sogar vorher angekündigt. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen musste der Bösenhandel fast drei Tage still gelegt werden.
    Das Ganze ist jetzt zur Frage der nationalen Sicherheit erklärt worden. Der Geheimdienst ist mit den Ermittlungen betraut. Die Botschaft der Hacker ist deutlich: Wir sind euch mindestens zwei Schritte voraus.