Wochenbericht 46

Kapitalismus is Back

Die (willkürliche) Freisetzung von Humankapital als Instrument der Unternehmensführung kennzeichnet eigentlich den Frühkapitalismus. Genau das passiert gerade im Silicon Valley. Anstatt (wie in Europa) Entlassungen als Krisensymptom zu sehen, gilt dies als Agilitätsbeweis der US-Unternehmen. Seht her: Wir haben uns in Rekordzeit an das neue Zinsniveau angepasst, ist die Botschaft von Corporate Amerika.

Stuttgart, 19. November 2022.

Eine Fliege macht noch keinen Sommer, bereits ein erster Hinweis auf ein nachlassendes Inflationsmomentum in den USA genügt aber für eine veritable Herbstrallye bei Aktien und Anleihen.

In der Vorwoche senkten die Götter der IT-Infrastruktur inmitten der Vorbereitungen für den »Marktplatz für Handelsstrategien« ihren Daumen über die zentrale Harddisk des Hieronymus -Servers. Danach hatte die Instandsetzung der IT jedenfalls Priorität.

Im Blick zurück perlt sich aus dem Rauschen der Tagesmeldungen ein maßgeblicher Trend heraus. Zunächst fragten wir uns, wie relevant es, dass Meta 11.000 Mitarbeitern den Laufpass gibt. Interessanter ist, dass im Windschatten des Dramas bei Twitter im Silicon Valley (insbesondere bei Krypto- und Web3-Unternehmen) geräuschlos 135.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden. Richtig: Hire & Fire is back, in den USA. Was aus europäischer Perspektive Zeichen schlechter Unternehmensführung ist, gilt in anderen Teilen der Welt als Agilitätsbeweis. Seht her: Kapitalismus ist zurück! Dazu passt dann auch die öffentliche Aufforderung Alon Musks an die Twitter-Mitarbeiter, entweder viele Überstunden zu machen (und den Arbeitsplatz zum Lebensmittelpunkt zu erklären) oder selbst zu kündigen.

Das Signal an die Kapitalmärkte könnte deutlicher nicht sein: Sehr her, wir packen wieder an, beuten unsere Mitarbeiter nach Kräften aus und gestalten die Zukunft. Es gibt keine besseren Orte für Investments.

Die Message wird allerdings nicht überall verstanden. Warren Buffett gab bekannt, 60 Mio. TSMC-Aktien erworben zu haben (Gegenwert: 5 Mrd. $). Den eskalierenden geopolitischen Spannungen zum trotz gibt er Taiwan den Vorzug vor dem heimischen Silicon Valley.

Die Umkehr des Mindsets

Wie bereits in den Vorwochen an dieser Stelle ausgeführt, sind Anleihen aktuell in jeder Hinsicht eines Blickes wert. Dies- und jenseits des Atlantiks herrscht eine rege Nachfrage nach kurzlaufenden Unternehmensanleihen.

Warum Kurzläufer? Ein Blick auf die Zinsstrukturkurve ist eindeutig, diese ist derzeit maximal invertiert. Das bedeutet: Je kürzer die Restlaufzeit, desto höher die Verzinsung.

Abbildung 1: Zinsunterschied zwischen US-Staatsanleihenn mit 10 Jahren und 3 Monaten Restlaufzeit

Am Anleihemarkt herrscht »verkehrte Welt«, denn üblicherweise sind langlaufende Anleihen höher verzinst.

Dass Investoren zu den aktuellen Konditionen bei Anleihen zugreifen, ist nachvollziehbar. Welchen Vorteil es für Emittenten im aktuellen Umfeld (und höchstwahrscheinlich nahe dem Zenit im Zinszyklus) Kurzläufer zu emittieren? Oracle und General Electric begaben beispielsweise Anleihen im Wert von 15,3 Mrd. $, die bereitwillig vom Markt absorbiert wurden.

Stellt man die Vorgänge am Anleihensegment in den übergeordneten Kontext, dann senden die Unternehmen mit den Anleiheemissionen ebenfalls ein Agilitäts-Signal. Die Message lautet: »Seht her, wir können auch in der neuen Zinsrealität profitabel arbeiten.«

Was sich allerdings seit 2019 fundamental verändert hat, dass plötzlich selbst ein Kapitaldienst von 10 Prozent einer nachhaltigen Unternehmensführung nicht im Wege steht, wird nicht kommuniziert.

Anleihen aus Schwellenländern

Wie schnell die Stimmung drehen kann, zeigt ein Blick nach Korea.
Ende September bediente ausgerechnet Legoland(Korea) seine lokalen Anleihen nicht. Hoch nervöse Anleihegläubiger zogen daraufhin die Reißleine und räumten ihre Anleihedepots. Das Ergebnis: Innerhalb weniger Wochen kletterte die Rendite selbst für Investmentgrade-Anleihen in Seoul um 1,57 Prozent. Die Preise für Kreditversicherungen (CDS) verdoppelten sich.

Nur ein Default reichte aus, um das Vertrauen in das gesamte Marktsegment zu zerstören. Der koreanische Anleihemarkt weist auch aktuell noch größere Spreads aus, als vergleichbare Nachbarbörsen. Das Emissionsvolumen hat sich halbiert.

Market liquidity is drying up, making it difficult for many companies to sell bonds and pay back maturing debt. Lee Sang-ho, ein Direktor bei der Federation of Korean Industries

Ein Negativ-Ereignis reicht aus, das ganze Marktsegment auszutrocknen.

Korea zeigt: Am Anleihemarkt sind Liquidität und Ausfallrate die maßgeblichen Kenngrößen.
Gemäß JP Morgan ist die Ausfallrate für Junk-Bonds aus den Schwellenländern auf 11,4%. Der langjährige Durchschnitt liegt bei 3,7 %. Dieser Anstieg ist mindestens teilweise auch Kriegsfolge. Die Ausfälle konzentrieren sich 2022 auf China (Immobilien), Russland und die Ukraine.

Abbildung 2: Ausfallraten für High-Yield-EM-Anleihen, Quelle: JP Morgan, Economist

Trotz einer heftigen Aufwertung des US-Dollar, den sich intensivierenden Handelskriegen und stark gestiegener Energie- und Rohstoffpreise, sind die Ausfallraten bei Unternehmensanleihen aus Südamerika, Afrika und Arabien nicht erhöht.

Messerscharf schließen Investoren in Europa und den USA auf eine Insolvenzresilienz für High-Yield-Unternehmensanleihen. Dabei blenden Sie eine zentrale Aussage einer inversen Zinsstrukturkurve (Abb. 1) aus: Sie war in der Vergangenheit der beste Frühindikator für eine Rezession. Dann will man vielleicht keine High-Yield-Bonds im Depot haben. Hieronymus konzentriert sich deshalb auf längerlaufende investmentgrade Anleihen und spekuliert auf ein sinkendes Durationsrisiko.

Liquiditätsentzug mit Ansage

Rezessions-Indikationen werden derzeit konsequent ausgeblendet. Das Mainstreet-Mindset konzentriert sich auf die Perspektive eines baldigen Wechsels der Geldpolitik bei der FED. Das dies mit einer konzertierten Wiederaufnahme des Quantitative-Tightenings bei der FED, der Bank of England und der FED einhergeht, wird (noch) ausgeblendet. Statements der EZB, die Investoren für Liquiditätsrisiken nach koreanischem Vorbild auch in Europa sensibilisieren sollen, werden achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Erst Freitag veröffentlichte die EZB eine Stellungnahme von Christine Lagarde, der EZB Vorsitzenden, wonach die EZB 2023 multible Werkzeuge nutzen wird, die Inflation einzuhegen. Die Marktteilnehmer lasen den ersten Satz: »An der Zinsschraube wird kaum mehr gedreht.« Die wichtigen Passagen wurden ignoriert:

We also need to normalise our other policy tools and so reinforce the impulse from our rate policy (…) it is appropriate that the balance sheet is normalised in a measured and predictable way. Christine Lagarde,

Wie deutlich muss die EZB eigentlich kommunizieren, dass sie die Liquidität deutlich reduzieren wird? In der EZB-Bilanz schlummern Anleihen im Gegenwert von 3,2 Trillionen Euro. Jede auslaufende Anleihe entzieht dem Markt Liquidität. Das ist Gift für die Eigenkapitalbewertungen, stützt aber die Bewertungen von Fremdkapital.

Großbritannien

Kennzeichnend für die Gegenwart ist die Ignoranz dem Mindset widersprechender Fakten. Die Situation in Großbritannien kann ohne Übertreibung als prekär bezeichnet werden. Im Oktober erreichte die Inflation mit 11,1 % den höchsten Stand seit 1981. Wie damals prägen auch heute wieder Arbeitskämpfe das Bild, was das GDP negativ beeinflusst. In dieser Woche kündigt der Finanzminister die umfassendsten Steuererhöhungen in der Nachkriegsgeschichte an. Im Ergebnis entzieht die Regierung den Bürgern eine Kaufkraft über 35 Mrd. £ pro Jahr und belastet Unternehmen mit 20 Mrd. £. Das Statement, »Großbritannien kann sich die Kompensation der Klimafolgeschäden seiner CO2-Emissionen schlicht nicht leisten«, ist zwar populistisch, aber im Kern zutreffend.

Abbildung 3: Preisverlauf des britischen FTSE 100

Dem Aktienmarkt ficht das nicht an: Seit dem 10. Oktober ist der britische Leitindex FTSE 100 von 6830 auf 7360 Punkte geklettert. Kein anderer Aktienindex weist aktuell eine größere Diskrepanz zwischen ökonomischer Realität und den aufgerufenen Marktpreisen auf.

Fazit

Gegenwärtig üben sich die Finanzmärkte in der hohen Kunst der Ausblendung von Risiken. Man zelebriert einen Teilerfolg in der Bekämpfung der Inflation, freut sich darüber, dass in Europa trotz der Abwesenheit russischer fossiler Energiequellen die Lichter im Winter nicht ausgehen und die Wohnungen gemütlich warm sind, spekuliert, dass Unternehmen sich in Rekordzeit an die neue Zinslandschaft angepasst haben und ist nur zu gern bereit, an einen positiven Jahresausklang zu glauben. Dafür wird sogar die zentrale Aussage einer inversen Zinsstrukturkurve uminterpretiert: »This Time its different.« Um mit Adam Tooze zu sprechen: Wir leben im Zeitalter der Polykrise, zwischendurch genießen alle Phasen relativer Ruhe.

Zum Abschluß eine Empfehlung: Im Hörsaal des Deutschlandfunks ist ein deutsprachiger Vortrag von Adam Tooze über das Wesen der Polykrise nachzuhören.

Ressourcen

  • Companies rush to raise cash as stocks steady and inflation eases, FT 12.11.2022a
  • How a liquidity crunch in South Korea began at Legoland, ft 11.11.2022
  • Crash watch – Are risky emerging-market firms the next to go?, Economist 19.11.2022, S. 73
  • UK inflation accelerates to 41-year high of 11.1%, FT 16.11.2022
  • Doctor Hunt tends to an economy in intensive care, FT, []17.11. 2022](https://www.ft.com/content/b03b8a3c-bb66-4b71-a540-62efce3ed658)
  • Lagarde says ECB needs to use more tools to tackle inflation, FT 18.11.2022