Wochenbericht 43

Alles wird Gut

Der nahe Winter scheint angesichts sommerlicher Außentemperaturen weit weg. Dabei zeigen die entlaubten Bäume ganz klar die Richtung. Ähnlich agieren die Kapitalmarktteilnehmer. Kurzfristig werden akzeptable Quartalsbericht gefeiert werden. Die Notenbanken scheinen machtlos zu sein, gegenüber der Inflationsentwicklung. Kapitulieren sie und stützen trotz einer gallopierenden Geldentwertung die Kapitalmärkte? Viele setzen genau hierauf!

Stuttgart, 29. Oktober 2022.

Ein Blick ins Handelsblatt vom Donnerstag: »Das Neugeschäft im Bauhauptgewerbe fiel im August um sechs Prozent zum Vormonat (-15,6 % YoY). Nicht preisbereinigt lag der Auftragseingang um 0,8 % über dem Niveau des Vorjahresmonats. Real ist der Auftragseingang um 24 Prozent eingebrochen, sagt Peter Hübner, Präsident des Hauptverbands der dt. Bauindustrie.«

Diese wenigen Sätze zeigen das Dilemma der Volkswirtschaften in Europa. Sie werfen auch ein Schlaglicht auf den Informationsgehalt statistischer Daten, wie zuletzt dem überraschend positivem dt. Wirtschaftswachstum im dritten Quartal 2022.

In den USA ist die Datenlage noch prekärer. Aktienmärkte haussieren, nachdem bekannt wurde, dass die US-Ökonomie im dritten Quartal um 2,6 Prozent gewachsen ist. Die Kerninflationsrate steigt derweil munter auf fast 6 Prozent, getrieben durch ein überproportionales Lohnwachstum. Marktbeherrschend ist aber die Spekulation auf ein Ende der Leitzinsanhebungen der FED.

Dies liegt auch an der Performance der sehr bedeutenden Technologiegiganten.

Abbildung 1: Berichtssaison in den USA: Technologietitel massiv unter Druck

Die vorgelegten Zahlenwerke enttäuschten durch die Bank. Wesentliche Ursache der – aus der Perspektive der Kapitalmärkte – unbefriedigenden Entwicklung: der starke US-Dollar. Die Umsätze im Auslandsgeschäft machen bis zu 40 Prozent der Konzernbilanzen aus. Gegen den Markttrend der letzten 12 Monate konnte sich niemand absichern.

Hinzu kommen immer mehr Hinweise auf einen Einbruch der Baubranche und der Umsätze des US-Immobilienmarkts.

Die kanadische Notenbank kündigte wegen einer ähnlichen Entwicklung in dieser Woche ein vorläufiges Ende der Zinserhöhungen an. Gemäß der OECD ist Kanada wegen des hohen Anteils variabler Immobilienkredite das Land mit den global höchsten Immobilienmarktrisiken. Die kanadische Notenbank kann sich schlicht keine weiteren Zinserhöhungen mehr leisten.

Abbildung 2: Zusammenfassung einer globalen Immobilienmarktstudie der OECD durch den Economisten

In den USA werden Immobilienkredite in der Regel für 30 Jahre mit festen Zinssätzen abgeschlossen. Die lange Niedrigzinsphase begünstigte eine hohe, sehr langfristige Verschuldung. Der vergleichsweise niedrige Verschuldungsgrad der Haushalte (USA: 101%, Kanada: 186%, Dänemark: 249%)
ist den größeren sozialen Gegensätzen zuzuschreiben. Auf dem US-Immobilienmarkt und der US-Gesellschaft lastet aber ein ganz anderes Risiko: Wer in den USA einen langfristigen Immobilienkredit abgeschlossen hat, ist quasi in seiner Immobilien gefangen. Ein Umzug bewirkt in jedem Fall deutlich höhere laufende Wohnungskosten, sei es durch hohe Mietzahlungen oder schlechtere Hypothekenkonditionen. Das wirkt sich negativ auf die Liquidität des Marktsegments und die gesellschaftliche Mobilität aus. Weiter schnell und stark steigende Leitzinsen zünden die Lunte zu diesem Pulverfass.

Hikelandia

An dieser Stelle darf eine Untersuchung des Economisten nicht ausgelassen werden, die zum Schluss kommt, dass auch konsequente Leitzinsanhebungen das Inflations-Schema nicht zu brechen vermögen. Dies macht die Wirtschaftszeitung am Beispiel Chile’s deutlich. Der dortigen Notenbank gebührt das Privileg, als erste Institution überhaupt, bereits im Juli 2021 die Leitzinsen auf 0,75 % angehoben zu haben. Inzwischen steht der Leitzins in Chile bei 11,25 Prozent. Das Ergebnis: Die Inflationsrate ist mit 14 Prozent sogar noch höher, als in Europa. Die Kerninflation liegt bei 11%, gegenüber 6 Prozent in den USA. In Europa ist diese in vielen Ländern noch niedriger.

Auch andere Notenbanken haben die Leitzinsen konsequent und nachhaltig angehoben: Polen, Neuseeland, Korea, Brasilien. Nirgends ist ein messbarer inflationsdämpfender Effekt messbar.

Abbildung 3: Entwicklung der Kerninflation in Hikelandia

Gemäß der Studie des Economisten reagieren Preise für Güter und Dienstleistungen unabhängig vom Zinsumfeld auf die stark gestiegenen Energiepreise. Die Notenbanken können ihrem Auftrag, die Geldwertstabilität sicher zu stellen, gar nicht nachkommen. Was bleibt, sind dekorative Maßnahmen, um die Kritiker ruhig zu stellen und ein wachsendes Risiko von Zweitrundeneffekten.

Quantitative Tightening

Die Rede der EZB-Präsidentin nach dem Zinsentscheid enthält zwei bemerkenswerte Passagen. Einmal führt Frau Lagarde ausführlich aus, dass alle Frühindikatoren auf ein Abgleiten in eine Rezession in der gesamten Eurozone hindeuten. Trotzdem vollzieht die EZB eine Zinsanhebung um 0,75 Prozent. Dies ist in die Kategorie »dekorative Maßnahme« einzuordnen.

Dann kündigt sie an, dass die EZB ihre LTRO-Tender an den Leitzins anpassen wird. Diese Tender waren in der Nullzinsphase das Haupt-Instrument zur Geldmengensteuerung. Nun übernimmt der Einlagenzins diese Funktion, sagt die EZB. Die Banken können ihre Tender für eine Übergangszeit zu Sonderkonditionen »zurückgeben«. Effektiv dreht die EZB den Banken jetzt aber den Geldhahn zu. Die Kreditkonditionen dürften sich nochmals verschlechtern.

Mehr noch: weitere Zinsanhebungen in Kombination mit der Rückabwicklung des Quantitative Easing entziehen der Volkswirtschaft angekündigt nachhaltig Liquidität. Kapitalmärkte reagieren mit Preissenkungen auf den Entzug von Liquidität.

Abbildung 4: So nehmen die Kapitalmärkte die aktuelle Liquiditätslage wahr

Die Abb. 4 zeigt, wie weit der Liquiditätsmangel bereits fortgeschritten ist. Dies ist wohl das stärkste Argument für ein Ende des Zinserhöhungspfades in den USA. Wir nähern uns mit Siebenmeilenstiefeln den Interventionsniveaus der Vergangenheit. Ist es aber vorstellbar, dass die Notenbanken ihre Machtlosigkeit gegen die Geldentwertung anerkennen und trotz hoher und weiter steigender Inflation ihre Geldpolitik lockern? Vermutlich muss einiges passieren, bis zumindest die FED über ihren Schatten zu springen bereit ist.

Fazit: Die Kombination aus stark gestiegenen Marktzinsen, schwachen Immobilienmärkten und hoher Inflation steht einer nachhaltig positiven Preisentwicklung bei spekulativen Assets diametral entgegen. Die hier vorgetragenen Argumente stützen die Präferenz für Anleihen und anleihenähnliche Anlagen.

Abbildung 5: Chimera: Die aggressivste Wette auf ein Ende des Zinserhöhungspades in den USA

Das führt geradewegs zu einem alten Bekannten: Die Chimera. Kerngeschäft: Restrukturierung von Kreditpaketen. Die Gesellschaft schüttet quartalsweise Dividenden aus. Aktuelle Dividendenrendite: Zwanzig Prozent. Hier stellt sich natürlich die Frage der Nachhaltigkeit dieser Ausschüttungen.
Neben Aktien hat die Gesellschaft nachrangige Anleihen emittiert. Deren Ausschüttungen haben einen höheren Rang als die der Aktien. 2020 stand die Chimera wegen der pandemiebedingten Markturbolenzen unmittelbar vor der Insolvenz. Damals brachen sowohl die Notierungen der Aktie als auch die der Nachranganleihen ein. Das ist aktuell anders. Der Aktienpreis unterschritt das Krisenniveau aus dem Jahr 2020. Die Preise der Nachranganleihen sind nur moderat zurückgegangen.

Abbildung 6: Preisentwicklung einer Nachranganleihe der Chimera

Die Nachranganleihe schüttet bei einem Marktpreis von etwa 20 Dollar jedes Jahr zwei Dollar als Cupon aus. Die Aktie schüttet jährlich 0,92 $ aus, der Marktpreis: 6,8 $. Die Liquidität der Anleihe ist deutlich geringer als die der Aktie. Der Aktienpreis schwankt im Gegenzug heftig, insbesondere in Zeiten vom Marktstress.

Ressourcen

  • Trouble in Hikelandia – Even the most determined central banks are struggling to rein in inflation. Economist, 29.110.2022 S. 73