Die erwartete Basisinflation einer Volkswirtschaft ist die Differenz aus der Lohn- und Produktivitätsentwicklung.
In den USA ist die Inflation aktuell so hoch, weil die Arbeitslöhne stark steigen, die Produktivität aber nicht.
In Deutschland, Spanien und Italien hält sich das Lohnwachstum (noch) in Grenzen. Die deutlich höhere Inflationsrate ist externen Effekten geschuldet. Falls sich die Gewerkschaften mit ihren Lohnforderungen durchsetzen, gleicht die Situation in Europa der Aktuellen in den USA. Da die externen Inflationstreiber fortbestehen, könnte die höheren Arbeitslöhnen geschuldete Preisentwicklung sogar additiv wirken. Dann wäre die Geldentwertung in Europa doppelt so hoch wie in den USA.
Wie zu Beginn der 1970er divergieren aktuell die Preissteigerungsraten unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Komponenten. Erzeugerpreise sind im Jahresverlauf um fast 46 Prozent gestiegen (Stand September 2022). Demgegenüber sind die Verbraucherpreise mit knapp 11 Prozent nur moderat gestiegen. Dienstleistungen sind nur um 2,5 Prozent teurer geworden. In den 1970ern dauerte es mehrere Jahre, bis sich die Inflation durch die gesamte Volkswirtschaft »gefressen« hatte. Es gibt keinen Grund, diesmal eine andere Entwicklung zu antizipieren.
Im Gegenteil.
Der ökonomische Erfolg der Politik von Ronald Reagan ist fester Bestandteil der konservativen Auslegung der Gegenwartsgeschichte in den USA. Reagan war es, der mittels Steuersenkungen das Wirtschaftswachstum um jeden Preis anzufachen gedachte. Die Reagan Administration konterkarierte mit ihrer Politik die Bemühungen der FED, die Inflation zu bekämpfen. Zeitgleich verpflichteten sich die übrigen Industriestaaten zur Austerität. Eine strukturelle US-Dollar-Schwäche war die Konsequenz; die Handelspartner der USA übernahmen ungewollt und ungefragt den Schuldendienst. Rückblickend war das der eigentliche Grund für den späteren Rückgang der Inflation in den USA.
Dieses Muster steht Pate bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen konservativen Regierung in Großbritannien. Im Grunde folgt die Geld- und Finanzpolitik der EU selbst und ihrer Mitgliedsstaaten auch diesem Drehbuch. Trotz höherer Marktzinsen verschulden sich die Staaten Europas immer mehr. Aus den Fehlern der Austeritätspolitik der Vergangenheit haben alle ihre Lehren gezogen.
Das Problem ist: Reaganomics funktioniert nur für eine Minderheit von Staaten. Wenn sich alle diesem Regime verschreiben, werden einfach nur Schulden angehäufelt. Die Wachstumskomponente des Konzepts fußt auf der Ausbeutung anderer Staaten.
Dies spannt den Bogen zu den beiden Hauptereignissen der vergangenen Woche:
Die erste Maßnahme zieht den Inflationsgürtel für energieverbrauchende Staaten dauerhaft fester. Gleichzeitig stabilisiert man so den Geldstrom aus den Industriestaaten in die Förderländer.
Ein Blick auf den Preisverlauf für Öl zeigt in diesem Fall nur eine Normalisierung der Marktpreise an. Es ist dem Preiskartell gelungen, diesen eigentlich ganz normalen Prozess politisch zu instrumentalisieren. Das Kartell hat die kurze Blüte alternativer Energiegewinnung (Fraking) erfolgreich ausgesessen und sich nach der Corona-Pandemie den Markt zurück erobert.
Es sind die OPEC-Staaten, die entscheiden, ob und wann die Industriestaaten ihre Volkswirtschaften auf nachhaltige Prozesse umstellen. Je höher die Marktzinsen in den Industriestaaten, desto größer ist das Gewicht der OPEC-Staaten in diesem Prozess. Sie können Investitionen in zukunftsfähige Erzeugungsanlagen aus den laufenden Einnahmen decken. Für Investoren aus den Industriestaaten verlängert sich die Amortisierungszeit mit jedem Zinsschritt der Notenbanken. Mit jeder, aus Petrodollar errichteten Energiegewinnungsanlage verstetigt sich die Abhängigkeit der Industriestaaten vom OPEC-Kartell. Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass es dem Kartell gelingt, gegenwärtige Strukturen in das postfossile Zeitalter zu überführen.
Die Krux ist: Die Industriestaaten fördern diesen Prozess sogar. Die EU und auch Großbritannien schöpfen Erträge aus nachhaltiger Energieproduktion ab und schwächen so die Kapitalstrukturen im Segment nachhaltiger Energieerzeuger. Im Wettrennen um die profitabelsten Standorte für Solar- und Windparks haben die hiesigen Firmen strategisch (und gewollt) das Nachsehen.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung: Die Aktienpreise von Betreibern von Solar- und Windparks werden zinssensitiv. Das wird sehr schön am Beispiel der global tätigen Neoen deutlich, die sich seit Längerem auf der Watchlist befindet. Der Aktienpreis ist seit August um 10 € auf 34 € gesunken.
Neoen muss jedes neue Projekt aufwendig zu Marktpreisen finanzieren. Im September gelang es, eine Wandelanleihe mit einer Verzinsung von 2,85% zu platzieren. Aktuell läuft die Finanzierungsrunde für eine 200 MWh-Batterie-Speicherlösung in Australien. Je weiter die Marktzinsen steigen, desto weniger wettbewerbsfähig sind die zwangsbesteuerten europäischen Unternehmen.
Die zweite Entwicklung der Woche ist eine Demonstration der Macht der USA. Gegenüber Russland wurden aus bekannten Gründen umfangreiche Sanktionen verhängt. China und Indien durchkreuzen diesen Versuch, Russland einzuhegen. Die neuen Maßnahmen gegen China sind auch Antwort auf die Russlandpolitik Chinas. Der Konflikt zwischen China und der USA hat die Ebene von Strafzöllen längst hinter sich gelassen. Mit diesen hatte Donald Trump versucht, chinesische Exporte in den USA zu regulieren.
Die Biden-Administration hat die Strafzölle nicht ausgesetzt, nicht einmal temporär. Mehr noch: Die Maßnahmen wurden und werden immer weiter ausgedehnt. Das ist nicht mehr Protektionismus, das ist nun ein Wirtschaftskrieg.
Die Exportverbote schädigen US-Chiphersteller, wie Nvida und AMD, Ausrüster wie Applied Materials und Lam Resarch und natürlich ASML. Selbst die taiwanische TSMC ist betroffen.
“The stunning thing about this move is that they have assembled a whole array of tools,” the executive said. “They are not just targeting military applications, they are trying to block the development of China’s technology power by any means.”
Die Maßnahmen erfahren überparteiliche Unterstützung. Selbst die unmittelbar betroffenen Unternehmen begrüßen die Maßnahmen. Der überbordende Patriotismus trägt schon Merkmale einer Kriegswirtschaft.
Trotz unverändert hoher Nachfrage und voller Auftragsbücher hat sich der Aktienpreis von ASML seit November 2021 fast halbiert. Die Nachricht der Verhängung der Exportverbote bewirkte am Freitag eine erneute Preissenkung von sechs Prozent. Der Aktienpreis notiert auf dem Niveau des Sommers 2020. 2019 notierte der Wert noch bei 100 €.
Es geht (ausnahmsweise) nicht um Tina Turner, sondern um »There Is No Alternative» zu Aktien. TINA steht symbolisch für die Aktienkultur während der Nullzinsphase.
Mit der Perspektive auf weitere Zinserhöhungen erfährt der Begriff eine Renaissance. Anleihen sind in Zeiten steigender Marktzinsen Geldgräber (s.a. Neon). Eigentlich sollten (ausgesuchte) Aktien gerade in Zeiten steigender Marktzinsen einen guten Inflationsschutz bieten. Wenig zinssensitive Unternehmen leiten die Kostensteigerungen unmittelbar an ihre Kunden weiter. Nachdem sich der Markt an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst hat, dürften die bekannten Regeln wieder gelten.
In den ersten Handelstagen des neuen Kalendermonats stiegen die Marktpreise grundlos. Ursache sind strategische Käufe im Rahmen von Sparplänen und saisonale Käufe (sell in May .. but remember, come back in September). Es spricht Bände, dass die Käufe im Angesicht eines auch ökonomisch vermutlich herausfordernden Winterhalbjahres und berechtigten globalen Rezessionssorgen für 2023 getätigt wurden.