Es lohnt, über strategische Position im MDAX oder Stoxx 600 nachzudenken.
Der Kontrast könnte nicht größer ausfallen. Hier eine stabile Mehrheitsgesellschaft, die gemeinsam die Ruinen der gescheiterten Wirtschaftspolitk der Vergangenheit beiseite räumt. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals eine völlig zerrissene, postkoloniale Gesellschaft ohne Ziele.
Die Krisenpolitik Deutschlands ist eingebettet in ein europäisches Korsett, dass Schnellschüsse verhindert und gleichzeitig Halt bietet. Auf der britischen Insel stürzt derweil die postkoloniale Fassade vollends in sich zusammen. Anders als in Deutschland reagiert dort nicht die politische Mitte, sondern eine Gruppe marktliberaler konservativer Außenseiter.
»Yes, yes I am.«
Die Antwort der britischen Ministerpräsidentin auf die Frage; »Are you prepared to be unpopular?«
Die Regierung bemüht sich gar nicht, mit durchdachten Maßnahmen die Bevölkerung in der gegenwärtigen Lage zu unterstützen, denkt nicht einmal daran, die Bürger zu fragen, was sie für sinnvoll erachten. Im Stile Margaret Thatchers wird der Gesellschaft ein neolibealen Stempel aufgedrückt.
»Wir haben die höchste Steuerlast seit 70 Jahren. Das ändern wir,« wird gebetsmühlenhaft wiederholt. Also deckelt man Unternehmenssteuern bei 19 Prozent. Dann wächst die Wirtschaft stürmisch und die Mehreinnahmen überkompensieren die Einnahmeausfälle, lautet das Narrativ.
Das klappt, wenn die Inflation anzieht. Diese Erkenntnis setzte sich schnell an den Finanzmärkten durch. Das Ergebnis: Das Pfund wertet dramatisch ab. Seit dem Regierungswechsel stiegen die Anleiherenditen um sagenhafte 1,39%. Britische Staatsanleihen verlieren so in einem Monat 45 Prozent ihres Werts. Großbritannien, ein G7-Staat, ist finanzmarkttechnisch endgültig zu einem instabilen Schwellenland geworden. Der gesellschaftliche und ökonomische Abstieg seit dem Vollzug des Brexits erreicht eine neue Stufe.
Dieser dramatischen Entwicklung konnte die britische Notenbank nicht tatenlos zusehen. In einer Krisensitzung wurde als Sofortmaßnahme der Ankauf von Staatsanleihen beschlossen. In den nächsten drei Wochen kauft die Bank of England täglich für 5 Milliarden Pfund Anleihen auf. Mit dieser Maßnahme gelang es, die Preise für Anleihen bei vier Prozent Rendite zu stabilisieren. Der Renditeanstieg ist trotzdem epochal, am 1. September notierten die Anleihen noch bei 2,8 Prozent.
Die britische Regierung entlastet die Unternehmen um 45 Milliarden Pfund ohne die Einnahmeausfälle zu refinanzieren. Die britische Notenbank druckt bis Mitte Oktober 2022 65 Milliarden Pfund und kauft damit Staatsanleihen.
Die Notmaßnahme der Bank of England unterscheidet sich fundamental von den QE-Programmen der Vergangenheit. Im Zuge dieser geordneten Markteingriffe wurden die Anleihekäufe stets sterilisiert, also durch Verkäufe anderer Assets ausgeglichen. Die Bank of England wirft nun wirklich frisches Geld über der Insel ab.
In der City of London lagen am Montag und Dienstag die Nerven in den Handelsäalen blank. Hierzu schreibt die FT:
Luke Hickmore, a fixed-income manager at Abrdn who has been investing in UK government bonds for 21 years, says there were periods on Monday and Tuesday when there were no buyers for long-dated gilts.
“I’ve never seen a move like that,” he says. Even during the turmoil of the 2008 financial crisis, he adds, there was always a market for gilts.
Danach standen einige britische Pensionskassen am Dienstag abend unmittelbar vor dem Kollaps.
Jede Krise hat ihre Schlüsselmomente und -worte. Die Finanzkrise begann mit der Enttarnung toxischer Risiken gehebelter Subprime-Kreditederivate und hatte mit der Lehman-Pleite ihren Schlüsselmoment. Auch 2021 müssen wir einen neuen Begriff lernen: Liability Driven Investments (LDI), eine Umschreibung der Null- und Negativzins-Investmentstrategie britischer Pensionsfonds.
Pensionskassen müssen der Finanzaufsicht nachweisen, dass sie ihren Auszahlungsverpflichtungen (Liabilities) ohne Kapitalverzehr nachkommen können. Sie können nicht auf Preisveränderungen spekulieren. Stattdessen müssen sie vertraglich zugesagte Zahlungsströme nachweisen.
In den letzten vier Jahrzehnten profitierten die Pensionsfonds von stetigen Preissteigerungen der Anleihen selbst. Sei konnten neben den eingenommenen Cupons regelmäßig Windfall-Erträge aus sinkenden Marktzinsen generieren. Je näher die Marktzinsen an Null heranrückten, desto stärker waren die Fonds aber auf Zusatzrenditen aus Preissteigerungen bei anderen Assetklassen angewiesen. Eine solche Diversifizierung ist für Pensionsfonds aber gar nicht so einfach. Die Fonds müssen schließlich ihre Investments zu 100 Prozent mit Cash hinterlegen.
Finanzdienstleister unterliegen derartigen Restriktionen nicht. Was liegt näher, als die Diversifizierungsstrategie auszulagern? LDI war geboren. LDI-Produkte sind klassische Swaps, die mit Staatsanleihen als Collateral aufgesetzt werden.
Anfang des Jahres lag das Volumen solcher Kontrakte gemäß der FT bei 1,5 Billionen Pfund. Das entspricht 40 Prozent des in Großbritannien überhaupt angelegtem Vermögens.
Das Problem: Obwohl die als Sicherheit hinterlegten als risikofrei gelten, schwanken die Preise. Wenn der Buchwert unter eine Schwelle fällt, muss der Finanzdienstleister einen Margin-Call tätigen. Entweder die Fonds schießen weiteres Collateral nach oder das LDI-Investment wird aufgelöst. In diesem Fall muss der Pensionsfonds das Anlagevermögen abschreiben.
In dieser Woche erhielten diverse Pensionskassen Margin-Calls. Man stelle sich vor, dass im eh nervösen Marktumfeld bekannt wird, dass die großen Pensionskassen zu Notverkäufen gezwungen sind.
Genau das passierte am Montag und Dienstag großflächig. Am Mittwoch griff die Notenbank dann zur Gelddruckmaschine. Trotz galoppierender Inflation kauft die Bank of England seither jeden Tag für 5 Mrd. £ britische Staatsanleihen.
Vieles erinnert an das Jahr 2008. Wenig volatile Assetklassen machen wilde Preissprünge, Banken ziehen sich aus dem Kredit- und Hypothekengeschäft zurück, Pensionskassen stehen vor der Liquidierung.
Schaut man zurück, ist allerdings auch klar, dass der Prozess allgemeiner Preissenkungen aktuell keinesfalls abgeschlossen ist. Nach der Zuspitzung im Zuge des Kollapses von Lehman stabilisierten sich die Marktpreise zwar. Erst ein halbes Jahr später bildete der Markt den Preisboden aus.
Die aktuellen Marktpreise sind attraktiv, fürwahr. Wer jetzt zugreift, muss temporär mit deutlichen Preisrückgängen umgehen können.
In der Vorwoche verkündete die ungarische Notenbank ein vorläufiges Ende ihres Zinserhöhungszyklus. Diese Woche folgte die tschechische Notenbank. Am Donnerstag tagte das dortige Entscheidungsgremium und ließ die Leitzinsen unverändert bei 7 Prozent. Für die Zukunft erwartet die Notenbank keinen Inflationsdruck mehr. Im Gegenteil. Wegen rezessiver Entwicklungen bei den Handelspartnern erwartet man auch in Prag einen Rückgang des Wachstums, verbunden mit perspektivisch wieder sinkenden Leitzinsen.
Das führt zu der Abb.2. In Orange ist die Verzinsung von US-Staatsanleihen mit zwei Jahren Restlaufzeit seit 1975 dargestellt. Die Preisentwicklung des S&P 500 ist ebenfalls eingezeichnet.
Diese Phasen versucht die Abb. 2 über einen oszillierenden Indikator zu identifizieren. Aktuell zeigt dieser Indikator wieder eine kritische Marktphase an. Die Aktienmarktentwicklung im September passt unter der Annahme ins Bild, dass die Zinsen nun ein zyklisches Top ausbilden. Die Zinsentscheide in Ungarn und Tschechien könnten diese Phase einläuten. Das Kaufsignal für Anleihen ist weiterhin intakt, bei Aktien kann man sich für Investments noch Zeit lassen.