Wochenbericht 49

Memifizierung oder zentralistische Förderprogramme?

Kann Fiskalpolitik einen Strukturwandel orchestrieren? Die Europäische Kommisson und die Biden-Administration setzen hierauf. Es werden epochale Strukturfonds aufgelegt. Das genügt, einen ökonomischen Wandel einzuleiten, hoffen die Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks. Der Trumpismus verfolgt eine andere Strategie: Schnelle Aktivierung von Kapital zur Realisierung populistischer Projekte durch memifizierte Kapitalmärkte. Dieses Spannungsfeld wird uns 2022 erhalten bleiben.

Stuttgart, 11. Dezember 2021.

Der britische Geheimdienst schlägt Alarm. Sir Jeremy Fleming (nicht verwandt mit dem Erfinder von James Bond), Chef des GCHQ fürchtet, dass China die Olympischen Winterspiele nutzen wird, um den digitalen Yuan international salonfähig zu machen. Die Idee ist, ausländische Gäste ihre Rechnungen wie gewohnt mit einer Kreditkarte zahlen zu lassen. Als Abrechnungswährung dient der digitale Yuan. Die Transaktionen gehen dann geradewegs zu den Servern der PBoC.
Dort hat man eine zentrale Blockchain installiert, die zunächst alle innerchinesischen Geldtransaktionen speichert. Über die Kreditkartenzahlungen kann man auch Profile für Ausländer einpflegen.

In einem nächsten Schritt erwartet der GCHQ die Errichtung von Bridges zu den großen westlichen Blockchains. Danach ist es ein Kinderspiel, Geld von einer Wallet auf einer beliebigen Blockchain nach China zu senden und dort auszugeben. Der Rückweg ist natürlich verschlossen.

Das Ergebnis ist für den GCHQ besorgniserregend: Bereits eine Krypto-Überweisung genügt, um den westlichen Kunden gläsern zu machen. Über die Kryptowallet weiss der chinesische Staat bereits im Augenblick der Gutschrift in China alles über den ausländischen Kunden. Wer in China einkauft, ist genauso gläsern, wie ein Inlandschinese!

Gleiches gilt natürlich auch für Unternehmen. Mit etwas Geschick, entblättert eine Kryptoüberweisung das gesamte Kunden- und Zuliefernetz eines Unternehmens. Für Industriespionage sind Kryptomärkte eine Goldgrube.

Bis Dezember 2021 haben 140 Millionen Menschen und Unternehmen eine digitale Yuan-Wallet eröffnet. Darunter viele Exportunternehmen und Partner der Olympischen Spiele. Die PBoC hat ihre Netze bereits ausgeworfen.

Kryptoüberweisungen für venezuelanische Covid-Helfer

Einen vorgezogene Weihnachtsgeschichte.

Venezuelanische Auslandskonten sind wegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Maduro-Regimes in Caracas seit langem eingefroren. Die USA erkennt die vom Oppositionsführer Juan Guaidó geführte Exilregierung an. Der Kongress verfügte, dass Guaidó auf das Auslandsvermögen des Staats zugreifen kann, um den Menschen in Venezuela Coronahilfen auszahlen zu können.

Das Geld stand also zur Verfügung. Allen war klar, dass es kaum zielführend war, die Hilfen über offizielle Kanäle zu verteilen. Das hätte den Parteiapparat Maduro’s gestützt. Venezuela ist quasi bankrott; Geldanweisungen über das Bankensystem werden von internationalen Gläubiger konfisziert. Wie also zahlt man die verfügbaren Staatshilfen aus den USA zielgerichtet an die Bediensteten des Gesundheitswesens aus?

Die Oppositionsführer zeigten ein Gespür für neue Realitäten.

Zuerst wechselte man die FIAT-US-Dollar in USDC-StableCoins. Dann forderte man die Zielgruppe auf, Kryptowallets zu eröffnen. An diese Adressen wollte die Exilregierung die Hilfen (300 USD) in drei Tranchen überweisen.

Man hatte die Rechnung allerdings ohne die Offiziellen gemacht. Es war zwar problemlos, die Beträge auf die Wallets zu überweisen. Allein die Beträge in der Wallet nutzten den Mitarbeitern recht wenig. Für den Zugriff war Aritm notwendig worden, eine App, die eine Verbindung zur realen Welt herstellt. Dann können Rechnungen beglichen und auch Geld an Automaten ausgezahlt werden. Für den Maduro-Apparat war es eine Kleinigkeit, den Zugriff auf die App zu blockieren.

Wieder war Einfallsreichtum gefragt. VPN schien eine Lösung zu sein. Damit war die Auszahlung der Hilfen zu einem multinationalen Kraftakt mutiert. Es gelang, die kanadische TunnelBear für diese Aufgabe zu gewinnen. Für einige Monate war der Zugang zu den VPN-Servern für Veneuzelaner kostenlos.

Letztlich gelang es, 18 Millionen US-Dollar an mehr als 60.000 Coronahelfer auszuzahlen. Welch ein Aufwand für eine im internationalen Vergleich winzige Summe. 300 USD sind in Venezuela für einige ein kleines Vermögen. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet 3 Dollar pro Monat.

Kapitalmarktrealität Europa 2022

Spielt der europäische Binnenmarkt angesichts einer sich zuspitzenden geopolitischen Gesamtlage in absehbarer Zukunft sein ökonomisches Potenzial aus?

Ein Indikator hierfür ist die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts für StartUp’s. Wir alle erinnern uns an die Selbstverständlichkeit, mit der CureVac sein IPO an der Nasdaq vollzog. Auch BioNTech ist, obgleich eine in Holland registrierte SE, an der Nasdaq notiert. An deutschen Börsen wird das Mainzer Unternehmen als Auslandsaktie geführt. Europa ist für StartUp’s wenig attraktiv.

BenevolentAI: IPO in Amsterdamm

Mit Algorithmen zu besseren Medikamenten, das ist der Slogan der britischen BenevolentAI. Für Juli 2022 plant man über einen Zusammenschluß mit dem SPAC Odyssey ein IPO. Es sollen 300 Mio. € erlöst werden. Die Firma hätte dann eine Marktkapitalisierung von 1,5 Mrd. €.

Die Seed-Investoren sind: Temasek, der Staatsfonds aus Singapore, Astra Zeneca und die bisherigen Eigentümer von Odyssey.

Überraschend erkoren die Finanzieungsexperten von Odyssey nicht London, Singapore oder Ney York, sondern Amsterdam als IPO-Domizil. Dies könnte als Hinweis auf einen Trendwechsel für den Finanzplatz Europa gewertet werden, meint die FT.

Abbildung 1: Handelsvolumina an europäischen Börsen und London (Quelle: FT)

Tatsächlich hat sich der Finanzmarkt London nicht vom Einbruch des Handelsvolumens nach dem Vollzug des Brexit erholt. Zur Erinnerung: Mit dem Jahreswechsel 2020/21 verloren alle britischen Händler ihre Zulassung auf dem Kontinent. Brexit-Gewinner ist Amsterdam.

Insgesamt qualifiziert sich Europa seit der Jahrtausendwende als Kontinent der Stagnation. Die Marktkapitalisierung europäischer Aktiengesellschaften hat sich in Summe seit 2005 von 30 Prozent der globalen Bewertung auf 17 Prozent fast halbiert. In den USA gingen dieses Jahr 954 (zumeist unprofitable, siehe vergangener Wochenbericht) SPAC-IPO’s an den Start. In Europa (inklusive Schweiz und England) waren es 389.

Abbildung 2: Marktkapitalisierung von Aktiengesellschaften in den Wirtschaftsräumen (Quelle: FT)

Mit dem Regierungswechsel in Berlin, der nun anlaufenden Finanzierung des European Green Deals in Kombination mit dem Corona-Strukturfonds und der Bündelung von Ressourcen auf einen Handelsplatz könnte Europa vor einer Zeitenwende stehen.

Eine systematische Beobachtung des Finanzplatzes Amsterdam ist überfällig. Die EuroNext ist Leitbörse für Investments in der Eurozone.

USA: Comeback der Trumpisten

Corey Robin (Brooklyn College) schreibt in dieser Woche in der New York Times über das Befinden der US-Amerikaner nach einem Jahr Biden-Administration. Das Ergebnis ist ernüchternd. Das trumpsche Amerika ist keinesfalls mit der Erstürmung des Capitols als traurige Episode innerhalb der demokratischen Geschichte der USA ad Akta gelegt worden.

Das Gegenteil ist der Fall. Der Trumpismus hat sich als soziale Bewegung festgesetzt. Die Biden-Administration hat keinen vergleichbaren Rückhalt in der Bevölkerung. Robin identifiziert die Existenz einer sozialen Bewegung als unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der USA. Der liberale Professor sieht den Trumpismus als Nachfolger der Reagonomics, die die USA seit 1980 prägt. Davor prägte seit 1932 der New Deal die US-Innenpolitik.

Unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Präsidenten folgt dieser, bewußt oder nicht, dem Zeitgeist. So erklärt sich die streng neoliberale Politik von Bill Clinton, die nichts weiter bewirkte, als Reagonomics in die gesellschaftliche Breite zu tragen.

Gemäß Robin sind US-Präsidenten dann erfolgreich, wenn sie Ihre Agenda in den Kontext der übergeordneten sozialen Bewegung stellen. Dies tut Biden beispielsweise mit seiner China-Politik.

Im Ergebnis ist die Biden-Administration dort beliebt, wo sie – wenn auch in modifizierter Form – dem Trumpismus huldigt. Dies spielt den Republikanern in die Hände. Trotz des desaströsen Abgangs aus der ersten Amtszeit bestimmt Trump ideologisch weiterhin die US-Innenpolitik und ist erstaunlich populär.

Das ist auch an der Kapitalmarktreaktion auf die jüngsten Aktivitäten der Trump-Organisation ablesbar. Seit Oktober ist die Digital World Acquisition Group (DWAC) via SPAC in New York gelistet (siehe Wochenbericht 42). Außer dem Namen, der Trump-Organisation als Initiator und vagen Vorstellungen über ein konservatives Nachrichtenportal ist nichts über die Ziele und Visionen des SPAC’s bekannt.

Am Montag nominierte Trump den Abgeordneten Devin Nunes zum Leiter der DWAC. Nunes hat keinerlei Erfahrung im Medienbereich. Die einzige offensichtliche Qualifikation für den Job: Bedingungslose Unterstützung von D.T.

Das sahen viele Trumpisten als ausreichend an, um die Aktie zu kaufen. Der Preis stieg zwischenzeitlich um 48 Prozent.

Allein die Tatsache, dass es der Trump-Organisation mit sehr geringem Aufwand gelingt, eine Firma (neudeutsch) zu Memifizieren und so über soziale Medien innerhalb kürzester Zeit große Kapitaleinnahmen zu generieren, spricht Bände. Genauso wie die Untätigkeit der Börsenaufsicht bezüglich der allzu offensichtlichen Preismanipulationen bei Meme-Stocks.

Kapitalmärkte spielten in der Amtszeit Trumps eine bedeutende Rolle für die Gestaltung der US-Politik. Trotz ideologischer Differenzen umarmte Trump die Digitalkonzerne und sonnte sich in deren Erfolg. Die Verknüpfung von Entwicklungen in Sozialen Netzen mit Kapitalmarkttrends (Memifizierung der Wall Street) ist rückblickend eine Errungenschaft des Trumpismus. Auf diese Weise gelingt es, populistischer Politik jenseits verstaubter parlamentarischer Verfahren eine schnelle und effektive Finanzierung von Vorhaben zu orchestrieren.

Die Alternative hierzu ist träge und offensichtlich auch erfolglos. Die groß angekündigten epochalen Infrastrukturprogramme der Biden-Administration wurden im parlamentarischen Prozess bis zur Unkenntlichkeit verwässert, immer wieder verzögert und von den Republikanern erfolgreich diskreditiert. Das bedinungslose Grundeinkommen als Pandemieantwort der Trump-Administration ist dagegen in bester Erinnerung.

Quintessenz: Die Divergenz der Kapitalmärkte wird uns 2022 erhalten bleiben. Europa spielt den digitalen Kondratjew über zentral bereitgestellte und lokal allokierte Staatshilfen als Katalysator für die klimafreundliche, digitale Transformation. Die USA geht vordergründig über die Biden’schen Infrastrukturprogramme einen ähnlichen Weg. Im Hintergrund lauert jedoch der Trumpismus, der mit jedem Tag, mit denen die Zwischenwahlen im Herbst näher rücken, stärker zu werden droht. Gelingt es, die Kräfte weiter für eine Memifizierung von Trends an den Kapitalmärkten zu bündeln?
2022 verspricht insbesondere in den USA ein volatiles Finanzmarktjahr zu werden. Es ist wahrscheinlich, dass die Kapitalmärkte die unterschiedlichen ideologischen Systemantworten auf die ökonomischen Herausforderungen durch eine stärkere Abkopplung von Preistrends beantworten.

Ressourcen

  • UK spy chief raises fears over China’s digital renminbi, FT 11.12.2021
  • Digital scheme pays Venezuela health workers from frozen funds, FT 10.12.2021
  • The EU has a new weapon in the stock market battle, FT 8.12.2021
  • Gillian Tett, Meme mania is reshaping US markets, FT 9.12.2021
  • Corey Robin, Why the Biden Presidency Feels Like Such a Disappointment, NYT 8.12.2021
  • Barton Gellman, Trump’s Next Coup Has Already Begun, The Atlantic, 6.12.2021