Wochenbericht 48

Inflation und der Digitale Kondratjew

Die Entwicklung des Digitalen Kondratjew ist zweifellos die bedeutendste Entwicklung während der Corona-Pandemie. Charakteristisch für ein frühes Stadium eines Strukturzyklus sind hohe Inflationsraten. Auch für die Erreichung der Klimaziele sind höhere Inflationsraten unausweichlich. Nachhaltigkeit ist nicht ohne Geldentwertung zu bekommen. Das ist Paradox.

Stuttgart, 4. Dezember 2021.

Mittels Gentechnik ist es seit längerem möglich, eine längst ausgestorbene Tier- oder Pflanzenart aus archäologischen Fragmenten zu neuem Leben zu erwecken. Allein der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen. Es gibt ein weiteres Problem: Die fossilen Genome sind an völlig andere biologische Umgebungen angepasst. Evolution vollzieht sich in allen biologischen Bereichen. Ein neugeborenes, mausähnliches Säugetier aus dem Cambium hat gegen zeitgemäße Viren und Bakterien keine Chance. Genau so würde es umgekehrt einem modernen Zeitreisenden gehen. Evolution ist ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte. Der Wettkampf zwischen Viren und Prionen (Biologie der DNA-Fragmente) und Bakterien, Pilzen, Pflanzen und Tieren ist eine Triebkraft. Wer sich nicht anpasst, stirbt aus.

Wird eine Sezies von einer Seuche heimgeucht, passt sie sich an oder sie stirbt aus.

Seit der Antike vermehrt sich die Menschheit exponentiell. Das aktuelle Zeitalter heißt nicht umsonst Anthropozän. Der Homo Sapiens gestaltet die Welt flächendeckend. Es gibt scheinbar keine Grenzen individueller Freiheiten. Für Staaten existiert ein Wohlstandsversprechen. Hindernisse bei der Weiterentwicklung unserer Spezies werden rigoros aus dem Weg geräumt, oft zulasten bestehender biologischer Strukturen.

Im Anthropozän passt sich nicht das Genom des Homo Sapiens an Seuchen an. Statt dessen verändern sich Gesellschaften.

Die Standardantwort der menschlichen Gesellschaft auf eine Seuche ist die Isolation der Betroffenen (Lepra, Pest, TBC). Übergeordnet veränderten die Krankheiten die Gesellschaften. Der gegenseitige Respekt, der asiatische Gesellschaften auszeichnet, ist eine Folge positiver Erfahrungen in der Seuchenbekämpfung. Niemand kommt dort auf die Idee, eine Impfung auszuschlagen, die Mitmenschen vor einer Infektion durch den Einzelnen schützen könnte.

Das ist in den Staaten des Nordens bekanntlich anders. Hieronymus spekuliert, dass dieses gesellschaftliche Fehlverhalten auf gesellschaftlicher Ebene Konsequenzen hat. Möglicherweise liegt ein Paradoxon erster Güte vor:

Ausgerechnet die konservativsten Kräfte der Gesellschaft: Impfgegner und selbsternannte Querdenker, verhindern eine Rückkehr in liebgewonnene, aber wenig nachhaltige Gewohnheiten. Die Industriegesellschaften vollziehen Änderungen der Lebensführung, die unter »normalen Umständen« keinesfalls Mehrheitsfähig wären.

Nach dem ersten Lockdown des Jahres 2020 war völlig klar: Zurück zur Normalität. Ab in die Fußballstadien, ein Wochenende Ballermann für 29€, Abstriche machte man allenfalls bei Fernreisen.

Nach dem zweiten Lockdown im Winter 2021 öffnete auch wieder alles. Viele beschwörten die ökonomische Erholung. Und doch: Der Dienstleistungssektor ist in Europa und den USA weiterhin signifikant schwächer, als 2019.

Und nun der nächste Winterlockdown. Diesmal ist vieles anders. Es gibt Mustergesellschaften, die der Seuche trotzen (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland). Dort geht man den asiatischen Weg. Die übrigen Gesellschaften gehen den steinigen Weg periodischer Einschränkungen individueller Freiheiten. Zufall oder nicht: diese Gesellschaften erwirtschaften den größten Teil der globalen Wertschöpfung. Die ökonomische Entwicklung hängt deshalb maßgeblich von der Seuchenpolitik in diesen Staaten ab.

Die eine Sichtweise ist: Impfgegner und Querdenker verhindern die ökonomische Erholung. Eine andere wäre: Die Gesellschaften werden von diesen Randgruppen in eine bis dato wenig wahrscheinliche Richtung gezwungen.

In diesem Kontext wäre die Erwartung weiterer Winterlockdowns, plötzlicher Reisebeschränkungen oder unvermittelt auftretender Virusmutationen mit unbekannten Konsequenten der Sargnagel für wenig nachhaltige Tourismusformen. Um es zuzuspitzen: Querdenker erwirken eine nachhaltige Veränderung der Mobilitätsnachfrage.

Probieren wir diese Hypothese bei Tourismusunternehmen aus.

Abbildung 1: Preisverlauf der Tui

Die Preisentwicklung der Tui spricht Bände.
Bis zum Frühjahr gingen die Finanzmärkte auch wegen der geflossenen Staatshilfen von einem Weiter so beim Tourismus aus. Dann breitete sich die Delta-Variante aus und das Mißtrauen stieg. Dieser Trend setzte sich mit der Enttarnung der Omicron-Variante fort. Chartertourismus wie er bis 2019 üblich war, scheint keine Zukunft zu haben. Kein Beweis, aber ein Hinweis auf einen Wahrheitskern der bisherigen Überlegungen.

Bis in grüne Parteizirkel hinein zirkuliert das Narrativ einer nachhaltigen, kohlendioxidneutralen Gesellschaft, die allein durch technische Anpassungen möglich wird. Veränderungen der Lebensgewohnheiten des Wahlvolks sind danach abdinglich. Die Pandemie zeigt aber gerade, dass man der Gesellschaft sehr wohl Verhaltensänderung abverlangen kann, ohne dessen Fundamente zu beschädigen. Das ausgerechnet konservative und reaktionäre Kreise eine grüne Mobilitätswende erwirken, wäre ein versöhnliches Ergebnis der Corona-Pandemie.

Omicron und der Digitale Kondratjew

Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 den Planeten überzog, wußte niemand, welche Medikamente wirken, wie die Infektionen ablaufen, wer Überträger sein könne und wie man sich effektiv vor Ansteckung schützt. Die Kapitalmärkte reagierten auf die ihnen eigene Weise: Sie befeuerten den Digital-Kondratjew. Fast zwei Jahre später haben sich erstaunliche Entwicklungen durchgesetzt.

Nun hat das Virus erstmals signifikant mutiert. Einige Impfstoffe könnten unwirksam sein. An den Finanzmärkten werden mangels ausreichendem Impffortschritt wieder Endzeitszenarien herumgereicht.

Lieferketten könnten zusammenbrechen, wenn Länder wieder Ausgangs- und Arbeitsbeschänkungen verfügen, ist eine Befürchtung. Firmenzusammenbrüche drohen, weil die Kapitalpuffer nach 20 Monaten Pandemie verbraucht sind, behaupten andere.

Im Grunde ist jedoch allen bewußt, dass die ökonomischen Folgen selbst einer unkontrollierten Ausbreitung der Omicron-Variante begrenzt sind. Die derzeitigen Preissenkungen für risikobehaftete Assets sind vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Marktpreise bis November ein ungesundes Eigenleben geführt hatten.

Eine andere Pandemiekonsequenz setzt sich gerade in den Hirnen der Finanzmarktakteure fest: Die Phase sinkender Marktzinsen in Verbindung mit einem Deflationsumfeld ist vorbei.

Diese Entwicklung steht im Einklang mit einer frühen Phase des Digital-Kondratjew. Viele junge Projekte buhlen um Investoren. Die Geldpolitik der Notenbanken wirkt in einigen Marktsegmieten nicht mehr.

Überlagert wird der Inflationspfad durch einen fulminanten Regimewechsel in China.

Inflation made in China

Der Außenwert des Yuan darf täglich in einem, von der chinesischen Notenbank tolerierten Bereich schwanken. Die Preisbildung am Währungsmarkt ist nicht frei, größere Trends sind immer auch eingebettet in die chinesische Wirtschaftspolitik.

Abbildung 2: Verlauf des Währungpaares USD/Yuan

Je kleiner der nominelle Wechselkurs USD/CNY desto teurer sind chinesische Waren im Ausland.

  • 2015 und 2018 bildete das gegenwärtige Preisniveau des Yuan die Plattform für einen Trendwechsel.

Im Sommer 2015 brach der chinesische Aktienmarkt um 40 Prozent ein. Das triggerte eine heftige Abwertung des Yuan. Damals war der chinesische Finanzmarkt isoliert, der Kurssturz war auf China begrenzt. Das ist heute ganz anders.

Vor diesem Hintergrund ist beruhigend, dass China heute einen anderen Weg beschreitet. In der Vergangenheit lautete die Devise: »Wachstum um jeden Preis.« Die Auslieferung chinesischer Güter ins Ausland exportierte quasi im Huckepack Deflation. Der Bloomberg-Kolumnist John Auther vertritt in seinem Blog »Points of Return« am Donnerstag die Auffassung, dass China sein Wirtschaftsmodell verändert hat. Anstatt eine deutliche Abwertung der Währung zu orchestrieren (die im Inland inflationär wirken würde) setzt man darauf, dass die chinesischen Exporte nicht durch preiswertere Güter aus anderen Ländern ersetzt werden können. Im Ergebnis exportiert man nun also Inflation.

Diese Entwicklung ist auch dem Klimaschutz zuzuschreiben. Wesentliche Ursache der exportierten Deflation war der exponentielle Einsatz preiswerter Kohle, was die Produktionskosten niedrig hielt. Die Insustriestaaten exportierten mit dem Bezug preiswerter chinesischer Waren ihre eigenen CO2-Emissionen nach China. Wenn das Land seinen Klimazielen entsprechen möchte, muss man diesen Prozess unterbrechen.

Der gegenwärtige Inflationsdruck ist für die nahe Zukunft eine Konstante, behauptet Authers.

Inflationsraten:(November) Eurozone: 4,9 %, Deutschland: 6,0 %, USA: 6,2 %

(In-) Effizienz von Kapitalmärkten am Beispiel von SPAC’s

Im Wochenbericht 14/21 (Peak SPAC) beleuchtete Hieronymus die Auswüchse bei SPAC’s, populären, weil vermeintlich preiswerten Alternativen zu normalen Börsengängen.

In der aktuellen Ausgabe des Economisten widmet sich die Buttonwood-Kolumne dieses Themas. Buttonwood verweist auf eine Untersuchung der Universitäten Standford und New York. Die Autoren haben sich die Nebenkosten und die Performance von SPAC’s angeschaut, die im zweiten Halbjahr 2021 einen Börsengang vollzogen. Das Ergebnis ist niederschmetternd:

  • Die Kosten für den Börsengang betragen 33 % des eingeworbenen Kapitals.
  • In den ersten Monaten nach dem Börsengang ist die Performance der Aktien typischerweise 20 Prozent niedriger, als die der Benchmark (Nasdaq-Composite).

Immerhin hat sich die Situation gebesert. Im Jahr 2019 kamen die Autoren zu noch schlechteren Ergebnissen: Nur 57 % des eingeworbenen Kapitals stand damals für den vorbörslichen Kauf von Aktien des Unternehmens zur Verfügung, das an die Börse strebt. Die Underperformance der neuen Aktien lag bei 64 Prozent. Die allermeisten SPACS floppten 2019/2020. Heute sind sie notorische Underperformer.

Headlines der Woche

  • Asiastische SuperApp Grab geht via SPAC an den US-Aktienmarkt. Zu Beginn des Börsnehandels kostete die Aktie 13,06 $, was einer Marktkapitalisierung von 40 Mrd. $ entsprach. Am Ende des Handelstages zeigte die Kurstafel einen Preis von 11 $, zum Wochenschluß ging der Preis auf 9 $ zurück.
    Die Underperformance fügt sich in das oben skizzierte Schema für derartige Börsengänge ein.

  • Didi Global gibt US-Listing auf.
    Auf Druck der chinesischen Finanzaufsicht verlässt Didi Global den US-Kapitalmarkt. Didi’s IPO liegt nicht weit zurück: Im Juli feierte man eine Erstnotierung bei 15,50 $. Bereits damals hatten die chinesischen Behörden ihr Mißfallen geäußert (siehe Wochenbericht 26/21). Der Aktienkurs kannte danach nur eine Richtung: Süden. Anfang der Woche kostete das Papier noch 8 $, nach der Delisting-Ankündigung sackte der Aktienkurs auf 6 $. Seit der Emission sind 57 % des Kapitals »verbrannt«.
    Die Entscheidung Didi’s brachte Notierungen für chinesische Technologietitel insgesamt unter Druck. Auch Alibaba und Tensent gaben kräftig nach. Alibaba hat auf Jahressicht fast 60 Prozent Marktkapitalisierung eingebüßt. Es wird spekuliert, dass Didi’s jüngste Odyssee andere chinesische Technologieunternehmen von Börsengängen in den USA abhalten soll.

  • Evergrande Manager im Visier der Staatsanwaltschaft, Unternehmen vor dem Konkurs.
    Der mit mehr als 300 Mrd $ überschuldete Immobilienentwickler aus Guangdong steht nun offenbar vor dem endgültigen Kollaps. Mit tatkräftiger Hilfe staatlicher Banken war eine Umschuldung auf den Weg gebracht worden. Dazu hätte Evergrande eine Sicherheit über 260 Mio. $ (also weniger als 10 % der Verbindlichkeiten) beibringen müssen. Statt dessen veröffentlichte Evergrande eine ad-hoc-Pflichtmitteilung: “there is no guarantee that the group will have sufficient funds to continue to perform its financial obligations,” lautet der Kernsatz. Die Bank of China war offenbar aufgebracht. Bankvertreter kritisierten das Management offen als “inkompentent” (poor management) und bezeichnete die Unternehmensstrategie als “blind expansion”. Einen Tag später wurde der CEO zur Vernehmung einbestellt. Die chinesische Börsenaufsicht wird nicht müde zu betonen, dass Evergrande kein Disruptionspotenzial hat; eine Pleite hätte nur begrenzte Auswirkungen auf den Gesamtmarkt. Wir werden es erleben…

  • Jahresbilanz für IPO’s.
    Der Finanzdienstleister Dealogic hat die Börsengänge des Jahres ab eine Milliarde Dollar Marktkapitalisierung untersucht. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Hälfte der Unternehmen notiert zum Monatswechsel unterhalb der Erstnotierung. Von Unternehmen die bereits 2019 und 2020 ihre Erstnotierung hatten, notierten nach 12 Monaten 33 bzw. 27 Prozent unterhalb der Erstnotiz. Die Qualtiät der Börsengänge hat sich 2021 damit deutlich verschlechtert.

Ressourcen

  • Meanwhile, Back in Shanghai… Bloomberg Opinion, Points of Return, John Authers, 2.12.2021
  • After the Flood, Buttonwood, Economist 4.12.2021, Seite 79
  • China’s Didi to delist from New York and switch to Hong Kong, FT 3.12.2021
  • Evergrande chair faces officials amid debt crisis, FT 4.12.2021
  • Half of this year’s blockbuster IPOs are under water, despite broad stock rally, FT 29.11.2021