Wochenbericht 35

Reflexionen

In Europa und speziell Deutschland ist das Energiethema omnipräsent und wird immer mehr propagandistisch instrumentalisiert. Andere Kontinente, andere Probleme. Der Titelzeilenindikator blinkt auf, wenn die Presse im Zusammenhang von Technologie und Asien eine depressive Marktstimmung ausmacht.

Stuttgart, 3. September 2022.

Als »kalter Krieg« wird ein »schwerer Konflikt befeindeter Staaten« bezeichnet, »in dem nicht mit kriegerischen Mitteln gekämpft wird. Der Konflikt wird mit Propaganda, Drohungen und mit wechselseitiger Aufrüstung ausgetragen« (Bundeszentrale für politische Bildung). Ein Handelskrieg gehört zum Repertoire. Anfang der 1990er dachte man, die Episode »Kalter Krieg« gehöre der Vergangenheit an. Russland wurde aktiv in die globalen Lieferketten integriert. Dieser Trend verlangsamte sich nach 2014, wurde aber erst im Februar 2022 abgebrochen. Seitdem werden die Lieferketten im Rekordtempo gekappt. Die medial und propagandistisch inszenierte Still­legung der leistungsfähigen Gaspipelines folgen dem Drehbuch des Kalten Krieges.

Damit schließt sich ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, dass mit der Lieferung der legendären Mannesmann-Röhren gegen, auch damals schon begehrte, fossile Energieträger begann und immerhin ein halbes Jahrhundert ökonomische Prosperität begründete. Langfristige Lieferverträge für russische Energierohstoffe garantierten eine günstige, wenig volatile Energieversorgung, ein zentraler Pfeiler der deutschen Exportindustrie.
Die russischen Kohlenwasserstoffe ersetzten die ausgebeuteten heimischen Steinkohle- und Gasvorkommen. Nach dem Wegfall der Bindung der Deutschen Mark an den US-Dollar waren niedrige Energiepreise ein unverzichtbarer Standortvorteil, für dessen Fortbestand Industrie und Politik an einem Strang zogen. Mit diesem Faustpfand konnte sich Deutschland die Fortsetzung der Industriepolitik der Nachkriegszeit leisten. Dem Hausmeisterdeutschland der Adenauerrepublik folgte der Reiseweltmeister, die Toskana- und Balearen-Republik mit Netz und doppeltem Boden – im Grunde finanziert durch die preiswerten fossilen Energieträger.

Umwelt- und Mobilitätsaktivisten bissen sich Jahrzehnte an diesen Strukturen die Zähne aus. Die Zeilen der »Zeitenwenderede« des Bundeskanzlers waren kaum getrocknet, schon zeigen sich deutliche Risse im volkswirtschaftlichen Gefüge. Die Rede ist vom 9-Euro Ticket. Dies definiert Mobilität als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und bricht radikal mit der Verkehrspolitik des 20. Jahrhunderts.

Individualmobilität ist unglaublich kapitalintensiv, bindet etwa 500 € Kaufkraft pro Monat und Fahrzeug. Eine kollektive Organisation der Mobilität setzt unglaubliche finanzielle Ressourcen frei und ist zudem Schlüssel für eine nachhaltige Industriegesellschaft. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein globaler Konflikt eine längst überfällige gesellschaftliche Entwicklung katalysiert hätte. Die Gesellschaft ist bereit, das zeigt die aktuelle Debatte um ein permanentes öffentliches Mobilitätsangebot.

Der Energiekomplex

Symptomatisch für die derzeitige Debatte ist die Forderung aus konservativen Kreisen, ausgerechnet derzeitige Wind-Fall-Erträge bei Erzeugern regenerativer Energie abzuschöpfen. Logisch wäre es, alle Energieerzeuger zu zwingen, die Erträge in nachhaltige Energieprojekte zu investieren und sie außerdem zu belohnen, wenn sie kurzfristig weitere nachhaltige Energiepotenziale erschließen.

Würde dies passieren, wäre die gesamte Wertschöpfungskette nachhaltiger Energieprojekte ein klarer Kauf. Ein Blick auf NEOEN, einem international aufgestellten Betreiber von nachhaltigen Energieerzeugungsanlagen mit Sitz in Paris, zeigt stattdessen:

Abbildung 1: Preisentwicklung der Neoen-Aktie im Vergleich zur Brookfields Energy Partners (blau)

Der Aktienpreis notiert auf dem Niveau des Nov. 2021. Business as Usual, keine Goldgräberstimmung als Folge explodierender Energiepreise, keine spekulative Preistreiberei.

Die Marktpreise antizipieren weder eine Ausschüttung noch hochrentable Reinvestitionen aktuell am Strommarkt erzielter Verkaufserlöse. Der Wert reagiert (wegen der Kaptialintensität) sensibel auf Veränderungen der Marktzinsen. Seit August ist die Marktkapitalisierung trotz global steigender Strompreise um 10 Prozent gesunken. Brookfields Energy Partners hat ein vergleichbares Geschäftsmodell, konzentriert sich jedoch auf Nordamerika. Währungsbereinigt sind die Wertentwicklungen der Aktien vergleichbar.

Das Marktsegment »Nachhaltige Energieerzeugung« ist ein defensiver Baustein der Kapitalanlage; Neoen diversifiziert das Basisinvestment Brookfield Energy Partners (siehe Push für nachhaltige Investments).

Depression im Technologiesektor

Eine Meldung in der Financial Times verheißt nichts Gutes: Tencent, ein Flaggschiff im chinesisch-asiatischen Technologiesektor, kündigt einen radikalen Strategiewechsel an. Man gibt erstens sein externes Wachstum auf. Zweitens implementiert das Unternehmen ein radikales Kosteneinsparprogramm. Darin enthalten ist, drittens, eine Fokussierung auf das Kerngeschäft, also das Abstoßen (oder neudeutsch Disinvestment) nicht essentieller Unternehmensteile. Allein der (hochprofitable) Messager/Bezahldienst WeChat wird um etwa 15 Prozent schrumpfen.

Der Konzern reagiert zum Einen auf den regulatorischen Gegenwind in China selbst. Weit wichtiger ist aber die Tatsache, dass Geld zu teuer geworden ist, den bisherigen Expansionskurs fortzusetzen. Tencent kann Investoren keinen Mehrwert mehr garantieren, gegenüber chinesischen Staatsanleihen.

In der Vergangenheit trat Tencent als Venture-Capital-Investor der ersten Stunde auf, der langfristige strategische Ziele verfolgte. Der Konzern mobilisierte für seine Seed- und Venture-Capital-Investments konservativ angelegtes Anlagekapital. Die Reputation des Konzerns in Kombination mit unerreichtem Insiderwissen ermöglichte die Finanzierung von Projekten, die nirgends sonst eine Chance auf Realisierung hatten und in der Summe hochrentabel waren und zugleich den Technologiesektor an die Weltspitze hievte.

Der Rückzug von Tencent aus der chinesischen StartUp-Szene trifft die Absolventen chinesischer Universitäten doppelt hart. Unternehmerische Eigeninitiative wird perspektivisch nicht mehr honoriert, die Finanzierungsbedingungen verschlechtern sich mit dem Abschied des größten Marktspielers signifikant. Die jüngste Arbeitsmarktstatistik weist einen alarmierenden Anstieg der Jugend- und Absolventenarbeitslosigkeit aus. Bei den 16 - 26 Jährigen ist die (offizielle) Arbeitslosigkeit landesweit auf 20 Prozent gestiegen (2021: 13%). Einer von fünf jungen Menschen findet keinen geeigneten Arbeitsplatz, obwohl die Anzahl der Erwerbstätigen demographiebedingt auf Jahressicht um eine Million zurückgegangen ist.

Nun könnte man auf die Idee kommen, diese Entwicklung chinesischen Sonderentwicklungen zuzuschreiben, namentlich der Zero-Covid-Strategie und die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung des Technoligiesektors.

Ein Blick in die asiatischen Nachbarstaaten zeigt aber, dass der Technologiesektor in ganz Asien problembehaftet ist.

Abbildung 2: Preisentwicklung der SEA-Aktie

Das größte, junge asiatische Technologieunternehmen ist SEA mit Firmensitz Singapore. Die wichtigsten Dienstleistungen: E-Commerce (Shoppee), Payments (Seamoney), Entertainment (Garena). Die Marktkapitalisierung überschritt 2021 die 200 Mrd. $ Marke. Aktuell wird das Unternehmen mit gerade noch 37 Mrd. $ bewertet. Die jüngste Veröffentlichung der Geschäftszahlen triggerte eine weitere Verkaufswelle. Das Umsatzwachstum (YoY) betrug im Q2 »nur« noch 29 Prozent. Das Problem: Die Unternehmen liefern Investoren keine nachhaltig profitable Geschäftsmodelle. SEA wies für das Q2 einen Cash-flow von -607 Mio. $ aus. Das »Verbrennen« von Investorenkapital wird aktuell maximal bestraft.

Die Preisentwicklung anderer Technologieunternehmen aus der Region ist nicht anders: Der Aktienpreis von Grab (SuperApp, Singapore) ging von ca. 16 $ in 2021 auf aktuell 3 $ zurück, Bukalapak (E-Commerce, Indonesien) ist auf Jahressicht um zwei Drittel eingebrochen.

Der Economist beschreibt die Stimmung in der Technologieszene Asiens als »Depressiv«. Das interessiert Schnäppchenjäger. Trotz intakter, dynamischer Preistrends haben sich Schwellenländerfonds in signifikantem Ausmaß eingedeckt, berichtet ebenfalls der Economist. Die Technologieunternehmen ersetzen demnach (strategische) Investments in Russland.
Hieronymus stuft die aktuell aufgerufenen Aktienkurse dieser Unternehmen ebenfalls als strategisch interessante Bewertungen ein, denen man aber eine Weile zur Entfaltung einräumen muss. Ein Investment drängt sich kurzfristig allerdings nicht auf. Ein Schnäppchenkauf über eine Stillhalterstrategie mit einem Zeithorizont bis Jahresende ist wegen der hohen impliziten Volatilität interessant. Bei weiter fallenden Marktpreisen greift bei Aktiengesellschaften aus Singapore der Temasek-Put. Der Staatsfonds gilt als Garant des Fortbestehens wichtiger Unternehmen mit Sitz im Stadtstaat.

Ressourcen

  • There Is Still No Bottom For China’s Economy, Wall Street Journal, 1.9.2020, p. B12
  • Tencent divestment strategy sends chill through China’s tech sector, FT 1.9.2022
  • South-East Asian tech firms: Tropical Depression – Investment in the region is stumbling, Economist 27.8.2022, p. 54