Wochenbericht 34

Spätsommerblues

Die FED nutzte das Notenbank-Treffen in Jackson Hole zu einer unmissverständlichen Message: Es gibt keinen Powell-Put (mehr). Die Notenbanken haben kein Interesse an stabilen Aktienpreisen. Auch anderswo stehen die Zeichen auf Veränderung: Einflussreiche US-Senatoren graben dem Kreditkarten-Oligopol das Wasser ab.

Stuttgart, 27. August 2022.

Neun Minuten dauerte die Rede von Jaw Powell (FED) anlässlich des Treffens der Notenbanker der Welt in Jackson Hole. Neues verbreitete er nicht. Stattdessen: eine Bekräftigung der Aussagen der Vergangenheit. Die FED sieht die Preisstabilität als oberste Priorität und nimmt dafür auch einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den USA in Kauf, inklusive eines (vorübergehend) schwächerem Wachstums.

FED ermuntert Marktteilnehmer zur Gewinnmitnahme

Das nahmen die Finanzmärkte nicht gut auf. Anleihen, Aktien, Rohstoffe. Alles wurde preiswerter. US-Aktien schlossen auf einem 4-Wochen-Tiefstand.

Abbildung 1: Heatmap des S&P 500 vom 26.08.2022

Im Wochenverlauf hatten die Aktienmärkte die Abgaben der Vorwoche auskorrigiert, die Volatilität kam ein wenig zurück. Die Rede des FED-Vorsitzenden fiel in die Handelszeit der europäischen Börsen. Diese reagierten mit deutlichen Preissenkungen.

Abbildung 2: Preisverlauf des EuroStoxx50 Index und (blau) Volatilität

Ambivalente Charttechnik

Charttechnisch hat der Sommerhandel eine interessante Konstellation hervorgebracht:

Abbildung 3: Preisverlauf des EuroStoxx50 Index und (blau) Russel 2000 im Vergleich
  • Die (nicht währungsbereinigten) Notierungen des EuroStoxx und des Russell 2000 sind auf Jahressicht perfekt korreliert. Zwischen November 2021 und Juli 2022 underperformten die US-Aktien. Innerhalb von vier Wochen glichen sich die Markt­preise wieder an.
  • Die Sommerrallye hat den EuroStoxx aus dem Abwärt­strend­kanal herausgeführt. Aktuell »kratzt« der Index an der oberen Trendbegrenzung. Weitere Abgaben führen den Index direkt zurück in den Abwärtstrend, verbunden mit einer Preis­pro­jek­tion für den Septemberverfall von 3.000 bis 3.300 Punkten.
  • Der Wochenschlusskurs des EuroStoxx war 3.667. Es verbleibt ein Puffer von 67 Punkten, bis die charttechnischen Fluttore hin zu niedrigeren Marktpreisen geöffnet werden. Der Vola­tilitäts­verlauf (Abb. 2) nimmt dieses Szenario bereits vorweg.
  • Das aktuelle Preisniveau des EuroStoxx fällt zusammen mit dem lokalen Preis­minimum aus dem Mai und der Obergrenze der Tradingrange zwischen dem 15. Juni und dem 17 Juli (rote Linie). Damals pendelte der Index zwischen 3.400 und 3.600 Punkten.
  • Chart- oder besser markttechnisch ist eine alternative Inter­pre­ta­tion des Preis­verlaufs möglich: Der Eurostoxx notiert seit März 2022 in einer breiten Tradingrange zwischen 3.900 und 3.400 Punkten. Aktuell notiert der Index un­spek­takulär in der Mitte dieser Range. Solange die US-Aktien ihren Abwärtstrend nicht wieder aufnehmen, ist die Preis­unter­seite bei 3.400 Punkten trotz einer Flut von Negativ­meldungen wegen der intakten Korrelation zum US-Aktienmarkt gut unterstützt.

Kopiervorlage 2008

Die Mehrzahl der aktiven Marktteilnehmer ist derzeit baerisch bis sehr baerisch eingestellt. Zu präsent ist der Preisverlauf der Aktienmärkte im Jahr 2008:

Abbildung 4: Eurostoxx – Normalisierte Preisverläufe 2008 und 2022

Damals kollabierte Bear Stearns im März. Die Notierungen pendelten über die Sommermonate seitwärts, bis am 15. September dann der Lehman-Schock die Märkte final auf Talfahrt schickte. Zugegeben: Heute bergen die absurden Gaspreisnotierungen (Gas ist in Europa um eine Zehnerpotenz teurer als in den USA) die Gefahr einer kaum vorhersagbaren Schieflage eines systemrelevanten Unternehmens aus dem Energiekomplex. Andererseits: Es ist ein Widerspruch in sich, dass der Mainstream einen starken Preiseinbruch zuverlässig prognostiziert. Allein die Tatsache, dass viele Marktteilnehmer eine Analogie zu 2008 antizipieren, ist der beste Schutz vor einer Wiederholung. Zur Einordnung: Wir sprechen über einen Preiseinbruch von 30 Prozent, also einer Notierung von 2.600 im Eurostoxx. Das würden sehr viele gern zum Aufbau strategischer Positionen nutzen.

Im Ergebnis hat sich im Wochenverlauf die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung eines neuen Jahrestiefs bis September erhöht. Es macht auch Sinn, auf weitere Preissenkungen vorbereitet zu sein. Eine echte Überraschung wären jedoch steigende Notierungen, für die Begründungen irgendwann nachgeliefert werden. Hierauf ist das Risikomanagement der wenigsten vorbereitet. Dort liegt aktuell das größte Preispotenzial, wenngleich mit einer überschaubaren Eintrittswahrscheinlichkeit.

Disruption voraus: Kreditkartenunternehmen

Zwei Kreditkartenunternehmen beherrschen den Markt: Visa und Mastercard. Beide verdienen glänzend, beide sind global tätig. Beide sind vereint in der Abwehr missliebiger Konkurrenten. Wie lange können sie die Entwicklung aufhalten?

Der Trend zur bargeldlosen Gesellschaft in dynamisch und nachhaltig. Große Profiteure sind Zahlungsabwickler, insbesondere Debit- und Kreditkartenanbieter. In Europa haben sich Debitkarten durchgesetzt, in Asien teilen sich die US-Kreditkartenanbieter und Onlinepaymentdieste wie WeChat und Alipay den Markt. Die USA ist das Stammland von Visa und Mastercard. Ihr Marktanteil dort: 75 %. Dieser Markt ist gigantisch; allein die Transaktionsgebühren summieren sich auf 138 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Die Hauptursache für die monopolartigen Erträge: Die Fees sind eine Zehnerpotenz höher als im Rest der Welt. In der EU sind die Transaktionskosten auf 0,3 % des Umsatzes gedeckelt, in Asien verlangen Alipay und WeChat nur 0,1 %. In den USA erwirtschaften die Kreditkartenunternehmen 2 – 3,5 % des Umsatzes, je nach Art der Kreditkarte. Nach den Lohnkosten sind die Kosten für den Zahlungsverkehr häufig die größten Kostenposten von Einzelhändlern. Wie es sich für Oligopolisten gehört, erwirtschaften Visa und Mastercard exklusive, dem Drogenhandel vergleichbare Profitmargen: 51 bzw. 46 Prozent.

Am 28 Juli brachten Richard Durbin (Demokraten) und Roger Marshal (Republikaner), zwei einflussreiche Senatoren, den Credit Card Competition Act (CCC) in die politische Debatte ein. Bis auf den erwartbaren Gegenwind durch Lobbyisten findet diese Initiative parteiübergreifend Befürworter. Der CCC hat ein beträchtliches disruptives Potenzial.

Es ist keine Zerschlagung oder sonstige Regulation der Kreditkartenunternehmen vorgesehen. Stattdessen wird den Händlern angeboten, selbst zu entscheiden, über welchen Dienstleister eine Zahlung verbucht werden soll. Jeder Händler soll bei jeder Transaktion wählen dürfen, ob er die Zahlung über die Oligopolisten laufen lässt oder ob ein Nischenanbieter den Zuschlag erhält. Neben den Oligopolisten soll jeder Händler mindestens einen kleineren Konkurrenten auswählen können. Die Senatoren sind zuversichtlich, dass sich sehr rasch eine heterogene Zahlungsabwicklungsinfrastruktur bildet, die deutlich effizienter und kostengünstiger arbeitet als das aktuelle System.

Mit der Verabschiedung des CCC drohen den Oligopolisten empfindliche Ertragseinbußen. Wenn es darum geht, einen Gebührenkuchen im Umfang von 138 Mrd. $ neuzuverteilen, dürfte der US-Kapitalismus seine Stärken ausspielen.

Die Konkurrenten laufen sich bereits warm. Sie heißen Klara (Buy now, pay later), Stripe, Plaid und Catch. Versuchen der Oligopolisten, die Firmen aufzukaufen, hat das Kartellamt eine Absage erteilt.

Abbildung 5: Preisverlauf der Visa-Aktie

Die Aktienpreise von Visa und Mastercard treten auf der Stelle. Kein Wunder. Noch sprudeln die Erträge und die Unternehmen leisten sich eine konservative Dividendenpolitik (Visa: Payout-Ratio: 21%, Dividendenrendite: 0,7 %). Selbst im Worst-Case ist zumindest die Dividende sicher. Der Aktienpreis hat sich in den letzten 12 Monaten allerdings um 10 $ verringert; es wird eine Dividende über 1,5 $ im Jahr ausgeschüttet.

Bei den Kreditkarten-Oligopolisten bietet sich eine inverse Stillhalterposition an, also der Verkauf von Call-Optionen, ohne die Aktie selbst zu halten.

Überraschendes Comeback des Establishments im US-Wahlkampf

Im Juni entzog der Supreme Court, das höchste Gericht der USA, schwangeren Frauen in den USA das Selbstbestimmungsrecht. Seitdem können alte Männer befinden, dass schwangere Frauen in einzelnen Bundesstaaten kein Recht auf Abtreibung haben, auch wenn dies ihr eigenes Leben kosten würde.

Unmittelbar nach der Verkündung des Urteils begann das Comeback der Demokraten im bereits verloren geglaubten US-Midterm-Wahlkampf.

The court’s decision was followed almost immediately by an uptick in the polls for the national Democratic party and a surge of funding for its candidates. (FT)

Seither berichten Demokraten stolz über stark gestiegene Wahlkampfspenden und die Zustimmungsraten für den altersschwachen Präsidenten steigen wieder. Abtreibung war zentrales Wahlkampfthema bei den Nachwahlen in New York, die der demokratische Kandidat in der vergangenen Woche klar für sich entscheiden konnte.

Es melden sich die ersten Wahlforscher zu Wort, die aus Wählerbefragungen eine gute Chance herauslesen, dass der US-Senat in demokratischen Händen bleibt. Damit wäre die Biden-Administration auch 2023 handlungsfähig.

Diese Entwicklungen überraschen und nähren die Hoffnung auf eine größere Widerstandsfähigkeit der US-Demokratie gegen Widersacher von rechts. Sollte die Zwischenwahl das aktuelle Kräfteverhältnis nur marginal verändern, könnte die Biden-Administration neben der Regulierung des Kreditkarten-Markts auch die Geschäftsmodelle der großen Digitalkonzerne hinterfragen und die Marktkräfte in diesem Bereich erneut entfesseln. Der US-Aktienmarkt kann hiervon nur profitieren.

Ressourcen

  • Joe Biden comes out swinging as Democrats sense midterms momentum shift – US president labels Trump and Republican philosophy ‘semi-fascism’ in approach to November elections, FT 26.8.2022
  • Pay back – The Visa-Mastercard duopoly hurts consumers and retailers. Can it be broken?, Economist 20.8.2022, p. 57