Zum Monatswechsel ist das Potenzial der aktuellen Bearmarketrallye ausgeschöpft. Der Preistrend ist nicht mehr abwärtsgerichtet.
Die Preisentwicklung blendet kurzfristig sowohl Inflations- als auch geopolitische Risiken aus. Das schließt selbst Italien ein, das einer sehr ungewissen Zukunft entgegensteuert:
Land | Aktienmarkt | Preisentwicklung (Woche) | Rentenmarkt | Rendite | Renditeentwicklung (Woche) |
---|---|---|---|---|---|
Italien | FTSE MIB | + 6,1 % | 10Y | 3,14 % | -0,27 % |
Deutschland | DAX | + 1,75 % | 10Y | 0,82 % | -0,20 % |
Australien | ASX | + 2,25 % | 10Y | 3,08 % | -0,38 % |
USA | S&P 500 | + 4,3 % | 10Y | 2,65 % | -0,12 % |
Trotz einer erheblichen Abhängigkeit von russischen Gasimporten und einer bevorstehenden Phase politischer Instabilität haussierten italienische Renten und Aktien. Die Outperformance gerade der spekulativsten Marktsegmente sagt viel über den Charakter der aktuellen Preisanhebungen bei Aktien und Anleihen.
In der vergangenen Woche veröffentlichten die Statistikämter vieler Industriestaaten aktuelle Inflationsdaten. In Deutschland verteuerten sich Lebensmittel (+ 14,8 % YoY) und Energie ( +25,8 % YoY) überproportional. Die offizielle Inflationsrate beträgt 8,1 %. In der gesamten Eurozone verteuerten sich Güter und Dienstleistungen auf Jahressicht durchschnittlich um 8,9 %. Die um volatile Komponenten (Energie, Lebensmittel) bereinigte Kerninflation beträgt europaweit nun 4 Prozent. Das ist doppelt so hoch, wie die Zielinflation der EZB.
Gleichzeitig stagniert oder sinkt das Wirtschaftswachstum in Deutschland und seinen östlichen Nachbarn. West- und Südeuropa verbuchte im 2. Quartal 2022 ein moderates Wirtschaftswachstum (YoY): Frankreich: +0,5 %, Italien: 1,0 %, Spanien: 1,1 %. Die Ursache: Sommertourismus.
Europaweit besteht eine Korrelation zwischen Inflation und Wirtschaftswachstum. In Spanien wurde beispielsweise das Wirtschaftswachstum von 1,1 % mit einer Inflationsrate von 10,8 % »erkauft«. Die ökonomische Stagnation in Deutschland geht einher mit einer Inflationsrate von 8,1 %.
Dieses Muster entspricht der Definition von Stagflation und ist nicht auf Europa beschränkt. Die USA ist bei anhaltend hoher Inflation sogar in eine technische Rezession abgeglitten (ΔGDP Q1: -0,9%, Q2: -0,2 %).
Da die Wirtschaftsleistung überall ohne einen signifikanten Abbau von Arbeitskräften schrumpft, üben sich die meisten Ökonomen in Durchhalteparolen. Ihr Dilemma: Es ist seriös kaum möglich, eine Rezession in Echtzeit zu erkennen. Dessen sichtbarstes Kennzeichen (neben dem Rückgang der Wirtschaftsleistung) ist Arbeitslosigkeit. Die ist aber ein nachlaufender Konjunkturindikator. Das zeigt ein Blick zurück in die 1970er
Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt: Das Ölembargo der OPEC im Jahr 1973 traf auf eine globale Ökonomie, die sich dynamisch von der Rezession der Spätphase des Vietnamkrieges erholte. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis sich der Energiepreisschock im Arbeitsplatzabbau niederschlug. Erst danach erholte sich die Konjunktur wieder nachhaltig.
Der aktuelle Rückgang des Wirtschaftswachstums bei hoher Inflation passt gut in den historischen Kontext.
Die US-Notenbank ist in ihrer Kommunikation sehr klar: »Wir haben aus den Fehlern der 1970er gelernt.« Damals lies die Notenbank eine viel zu hohe Inflation zu. Es bedurfte drastischer Zinserhöhungen, um die Phase endemischer Geldentwertung zu beenden.
In der letzten Pressekonferenz lies die FED keinen Zweifel offen, dass Geldstabilität oberste Priorität hat. Einige Kommentatoren brachten die Idee eines »Powell-Calls« auf. Steigende Marktpreise nutzt die Notenbank, um ihre Geldpolitik weiter zu straffen. Sie zöge damit eine ultimative Preisgrenze für den Aktienmarkt ein.
Trends werden an den Finanzmärkten aber auch heute noch wesentlich durch Handelsentscheidungen begründet, weniger mit Worten.
Die Futuresmärkte sind diesbezüglich eindeutig. Niemand schenkt den Worten der FED Glauben. Möglicherweise erhöht die FED nochmals im September die Leitzinsen. Danach ist aber definitiv Schluss. Nach dem Jahreswechsel 2022/23 wird die Geldpolitik gelockert und der gewohnte Powell Put greift wieder: Die Geldpolitik der FED stützt ab 2023 die Preise an den Kapitalmärkten, ist die Konsensmeinung.
In der Abb. 3 sind in Hellblau die offiziell kommunizierten Leitzinssätze und in dunkelblau die Terminkurve der Fed-Fund-Futures dargestellt. Die Rhetorik der FED läuft ins Leere, die Preise für Aktien und Anleihen steigen im Gleichklang.
Nach der parlamentarischen Sommerpause ist in den USA Wahlkampf für die Midterms im November. Die vergangene Woche war wohl die letzte, in der die Demokraten aus eigener Kraft Gesetzesvorhaben durchsetzen konnten.
Tatsächlich verabschiedeten die Kammern zwei konjunkturstimulierende Gesetze. Das Wichtigste ist das nun offiziell als »Anti-Inflations-Gesetzespaket« bezeichnete, auf 370 Mrd. $ abgespeckte Gesetz zur Förderung der klimagerechten Transformation.
30 Mrd. $
sind für den Aufbau einer autonomen Solarpanel- und Windkraftindustrie vorgesehen, 6 Mrd. $
bekommen Zement-, Stahl- und Düngemittelhersteller als Zuschuss für Umrüstungen zur Wasserstoffwirtschaft. Hinzu kommt ein Zuschuss für die Anschaffung von Elektro- oder Wasserstoffautos, Unterstützung für die Ausweisung von Schutzgebieten für Moore etc. und umfangreiche Förderung von Forschung und Entwicklung im Bereich der industriellen Transformation.
Die Erleichterung über die Verabschiedung geht mit der Erkenntnis einher, dass dies wohl das letzte Vorhaben der Demokratische Partei sein dürfte, dass in dieser Legislaturperiode umgesetzt wird. Es wäre eine vollkommene Überraschung, wenn die Demokraten die Mehrheit in nur einer Parlaments-Kammer behalten würden. Präsident Biden ist damit nach der Unterzeichnung der Gesetze bis zum Ende seiner Amtszeit eine »Lame Duck«.
Deshalb ist zu befürchten, dass die Marktreaktion auf das Gesetz verhalten ausfallen wird. Es gibt einfach zu viele Kräfte, die Transformation als Risiko begreifen und alles torpedieren, was den gegenwärtigen Status-Quo infrage stellt.
In der abgelaufenen Woche veröffentlichten die Statistikämter turnusgemäß Updates zum Verbrauchervertrauen in der Eurozone und in den USA. Dieser – wie die Arbeitslosigkeit üblicherweise nachlaufende – Konjunkturindikator notiert in beiden Wirtschaftsräumen auf oder nahe historischen Tiefständen.
Der Indikator wird gern antizyklisch interpretiert, je tiefer, desto optimistischer werden Spekulanten. Ein niedriges Verbrauchervertrauen bedeutet: Die Konsumenten halten sich in der Gegenwart zurück. In naher Zukunft wird ein Großteil des Konsums nachgeholt – eine starke Indikation auf ein hervorragendes Weihnachtsgeschäft.
Dies mag für die USA zutreffen. Europa steht allerdings absehbar ein ungemütlicher Winter bevor. Anders, als in der Corona-Epidemie, stützen die Staaten die Konjunktur nicht mehr aktiv. Die in Deutschland verabschiedete Energieumlage zeigt den Paradigmenwechsel: Während der Pandemie und in der Anfangsphase des aktuellen Inflationsimpulses sprangen die Staaten mit fiskalischen Maßnahmen ein. Unternehmen wurden gerettet, Bürger großzügig entschädigt.
Nun geraten (systemrelevante) Energiegroßhändler in eine finanzielle Schieflage und werden vom Staat gestützt. Die Kosten werden jetzt aber nicht mehr vom Staatshaushalt getragen, sondern auf die Energiekonsumenten umgelegt. Das Signal an die Verbraucher könnte nicht eindeutiger sein: Individuelle Vorsorge vor wenig kalkulierbaren Risiken ist essenziell. Dies betrifft die Mittelschichten überproportional. Für West- und Osteuropa (inklusiv Italien) ist vor dem Frühjahr keine Belebung des Verbrauchervertrauens und damit sind auch keine Nachholeffekte absehbar.
Die Türkei schiebt sich wieder in die Schlagzeilen. Fast hat es den Anschein, als ob kaum eines der brennenden geopolitischen Krisenherde ohne die Türkei lösbar wäre. Die Türkei reitet vielfach auf der Schneide einer Rasierklinge, extrem flexibel, schnell und stets mit der Perspektive eines plötzlichen Falls.
Die Geld- und Fiskalpolitik folgt diesem Muster. Die Türkei verfolgt auf Geheiß des Präsidenten einen unter Experten als nicht nachhaltig bewertete Strategie, hohe Inflation mit niedrigen Leitzinsen zu bekämpfen. Türkische Staatsbürger werden entschädigt, wenn ihre Ersparnisse einen Kaufkraftverlust erleiden. Das Staatsdefizit steigt in diesem Regime, je stärker der Abwertungsdruck auf die Lira ausfällt.
Die Abb. 4 zeigt an aktuellen Rand eine fast exponentielle Abwertung der Landeswährung. Die Inflation ist über 100 Prozent geklettert. Wie lange diese Entwicklung noch fortgeschrieben werden kann? Unbekannt.
Hieronymus wagt eine steile These: Erst ein Kollaps der türkischen Wirtschaft nach dem Vorbild des Defaults Argentiniens 1998 entfaltet ausreichend disruptive Kräfte für einen nachhaltigen Regimewechsel in der Türkei und den korrelierten Krisenherden. Erst dann ist eine nachhaltige Erholung der Preise an den Aktienmärkten des Kontinents zu erwarten.
Auf absehbare Zeit sind folglich klassische Anlagestrategien wenig zielführend. Der heilige Gral der Kapitalanlage ist das Versicherungsgeschäft mit defensiven Stillhalterpositionen.