Nur drei der von Bloomberg beobachteten US-Vermögensverwalter gehen von stagnierenden Marktpreisen aus. Zweistellige Preissteigerungen sind hingegen die Konsensmeinung.
Ein Blick auf den typischen Sentiment-Verlauf innerhalb von Börsenzyklen zeigt, wie viel Wunschdenken den Prognosen zugrundeliegt.
Schauen wir zurück in den November 2021. Die Aktienpreise waren hoch, es zeichnete sich eine nachfragegetriggerte Inflationsentwicklung an. Es schien, als ob die Stimulusmaßnahmen endlich Früchte tragen würden: Die Welt steuerte auf eine Phase mit moderatem Wirtschaftswachstum mit einer Zielinflation von zwei Prozent pro Jahr zu. Investitionen in eine nachhaltige Transformation der Industriegesellschaft sorgten für eine strategische Perspektive für Investments.
Rückblickend war dies aus Sentimentsicht die Phase der Exuberance (Übertreibung).
Dann marschierte Russland in die Ukraine ein. Es wurden Sanktionen verhängt, Energiepreise explodierten. Nach einer kurzen Schockphase die Erkenntnis: Alles nicht so schlimm. Die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll, bis Mitte März beschleunigte sich der Ordereingang sogar noch. Es brach die Phase des Denials (Verweigerung) an, die die Marktpreise fast bis an das Niveau des Jahreswechsels zurückbrachte.
Seit April kippen reihenweise ökonomische Vorlaufindikatoren. Zudem begannen die Notenbanken, die Geldpolitik restriktiv auszurichten und die Zinsen anzuheben. Willkommen in der Phase des Fears (Angst). Die Marktpreise gingen stark zurück. Die Stimmungslage der Investoren ist dem im Frühjahr 2020 vergleichbar.
Dieser Verlauf des Sentimentzyklus ist allgemein akzeptiert.
Wie so oft, unterscheiden sich die Ansichten über die Gegenwart. Die Mehrheit der Vermögensverwalter sieht den Sentimentzyklus bereits wesentlich weiter fortgeschritten, so dass ein nachhaltiger, positiver Preistrend möglich ist.
Hieronymus fehlen hierzu noch klare Ausverkaufssignale, die die Sentimentphasen Panic, Capitulation und (ganz wesentlich) Despondency (Hoffnungslosigkeit) begleiten.
In einem typischen Investmentzyklus ist das Preistief an den Kapitalmärkten nicht mit dem Stimmungstief der Marktakteure identisch. Die eigentliche Phase der Depression tritt (rückblickend) nach dem Preistief im Zyklus auf. Auch müssen zunächst erste Vorlaufindikatoren zumindest eine Stabilisierung erfahren.
Der Conference Board Index, der dem heimischen IFO vergleichbar ist, hat noch sehr viel Raum nach unten. Für ein belastbares Markttief bedurfte es in der Vergangenheit sehr viel niedrigere Sentimentwerte in den US-Unternehmen.
In der aktuellen Ausgabe des Economisten nimmt sich Buttonwood dieses Themas an. Dort heißt es lakonisch: Der S&P 500 hat in seiner Geschichte 14 Bärenmärkte (Preisrückgänge > 20%) erlebt. Die durchschnittliche Amplitude bis zum Preisboden betrug 32 Prozent. Folglich ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fortsetzung der Preisrückgänge recht hoch. Dem aktuellen Preisregime fehlen wichtige Merkmale einer Kapitulation der Marktteilnehmer: extreme Handelsvolumina bei gleichzeitig hoher Volatilität, eine extreme Marktbreite bei Aktien mit Jahrestiefständen.
Die Tatsache, dass Bloomberg vierzehn (große) Vermögensverwalter ausgemacht hat, die trotz intaktem Abwärtstrend geradezu euphorisch ins zweite Halbjahr blicken, ist das stärkste Argument für eine Trendfortsetzung. In der Abbildung 2 beschließt Despondency (Verzweiflung, Niedergeschlagenheit) den Abwärtstrend. Die Aussagen der »Investmentprofies« lassen eher auf die Phase »Denial« (Verweigerung) schließen, denn auf Akzeptanz und Demut.
Das im letzten Wochenbericht propagierte Sommerintermezzo ist aktuell intakt. Das Ausbleiben taktisch motivierter Käufe in die aktuelle Marktschwäche deutet auf eine nur kurze Phase relativer Ruhe hin. Eine mögliche Mini-Sommerrallye wäre eine Gelegenheit zum Aufbau von Shortpositionen. Da sehr viele genau hierauf warten, könnte das aber auch komplett ausfallen.
Nach Redaktionsschluß erreichte uns der folgende Hinweis:
Langfristig (Abb. 4: 1996 bis 2022) konvergieren die Ertragserwartungen und ausgewiesene operative Margin von Unternehmen. Aktuell ist die Divergenz hoch wie nie. Zuletzt divergierten diese Daten zwischen 2005 und 2007. Damals folgten die Marktpreise zeitversetzt den Projektionen der Analysten.
In der Vergangenheit konnten Aktien nur stückweise ge- oder verkauft werden. Aus dieser Zeit stammt das Instrument »Aktiensplit« als Methode, ohne sonstige Nachrichten das Unternehmen in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aktiensplits sind immer noch das preiswerteste Werkzeuge zur Kurspflege bei Dividendentiteln. Die permanente optische Verbilligung von Aktien hatte während der Dot-Com-Periode um die Jahrtausendwende Hochkonjunktur und war danach vielfach verpönt. Nach den teilweise spektakulären Preisbewegungen von Technologieaktien erleben wir gerade eine Renaissance dieser IR-Maßnahme. In den letzten Wochen nutzten Amazon, Alphabet und Tesla diese Maßnahme.
Nun zog Shopify mit einem 1:10-Aktiensplit nach. Interessant: Der Split wurde erst in Erwägung gezogen, als die Notierungen in den freien Fall übergegangen waren. Der Aktienpreis ist von über 2.000 C$ im Herbst 2021 auf zuletzt 400 C$ zurückgekommen. In den vergangenen sieben Monaten verzeichnete die Aktie auf Monatssicht streng monoton sinkende Notierungen. Die Aktie kostet aktuell so viel (oder wenig) wie im Herbst 2019.
Dabei gehört das Unternehmen zu den spannendsten etablierten Technologieunternehmen überhaupt. Es verkörpert den Gegenentwurf zu den Geschäftsmodellen der Online-Giganten Amazon, Rakuten, Tencent/Alibaba. Diese Plattformen eint der Ansatz, sich zwischen Konsument und Dienstleister/Hersteller breit zu machen, die Strukturen des klassischen Einzelhandels in die Onlinewelt zu tragen. Shopify hat die Vision, Unternehmen den Zugang zur Online-Welt ganzheitlich zu ebnen. Es bietet Unternehmen einen Onlineauftritt inklusive übergeordneter Marketing- und Payment-Unterstützung. Die Plattform selbst ist für die Konsumenten unsichtbar. Die Unternehmen behalten bei ihrem Online-Auftritt die vollständige Kontrolle über die Marke und deren Positionierung im Markt.
Shopify bietet die Technologie für den professionellen Online-Shop, hält State of the Art Marketing-Tools z. B. über Partnerschaften mit Facebook, Walmart, Twitter, TikTok oder Instagram vor und tritt mit eigenen Payment- und Logistikdienstleistungen in direkte Konkurrenz zu Amazon.
Im April kündigte das Management den Aktiensplit an. Damals kostete eine Aktie noch mehr als 600 $. Nicht wenige fragten damals, warum man nach einem Preissturz von 60 Prozent die Aktie optisch weiter verbilligen müsse. Im Mai präsentierte das Unternehmen vernichtende Quartalszahlen. Der Quartalsumsatz betrug 1,2 Mio. $; die trotz des Abebbens der Coronasonderkonjunktur fortgesetzte Innovationsstrategie hinterließ den zweiten Quartalsverlust in Folge (1,4 Mrd. $).
Aktuell notiert das Papier knapp über 40 $.
Trotz des dramatischen Rückgangs der Marktkapitalisierung hielt das Management an der Übernahme von Deliverr für 2,1 Mrd. $ fest, der zu 80 Prozent in Cash erfolgte und am Eigenkapital von Shopify nagt. Deliverr ist zentraler Baustein für das Ausrollen eigener Logistikleistungen in den USA.
Wie es sich für ein schnell wachsendes, dynamisches Unternehmen ziemt, feuert das Management in Krisenzeiten marketingtechnisch aus allen Rohren. Bisher konzentrierte sich das Dienstleistungsangebot auf die Unterstützung des B2C-Marktes. Zukünftig will man seine Kunden auch im Einkauf unterstützen. Dafür baut man auf Lieferantennetzwerke, die allen B2C-Kunden zur Verfügung stehen. In den entwickelten Teilen der Welt verschärfen sich die Anforderungen an das Management der Lieferketten. Shopify könnte kleinen und mittelständischen Unternehmen neben einer größeren Einkaufsmacht Planungssicherheit bieten.
Shopify war einer der größten Profiteure der Pandemie. Das Unternehmen konnte seine Kundenbasis massiv ausbauen.
Der Aktienpreis ist inzwischen auf das Preisniveau vor der Pandemie zurückgekommen. Das Unternehmen ist aber kaum mit der »Klitsche« des Jahres 2019 vergleichbar. Ob der Aktiensplit eine gute Idee war, wird sich zeigen. Der aktuelle Marktpreis wäre gerechtfertigt, wenn es gelingt, 20 Prozent pro Jahr zu wachsen und am Markt ein KGV von 35 als fair bepreist wird.
Unter diesen Voraussetzungen bietet sich Shopify auf dem aktuellen Preisniveau als Basiswert für den Optionshandel (entweder in Toronto oder an der Nasdaq) an.