Wochenbericht 18

Boom & Burst

Das Jahr zwei nach der Corona-Epidemie versprach eine Rückkehr zur Normalität. Statt dessen: Lockdown in China, Krieg in der Ukraine, Preisexplosionen bei Rohstoffen, Arbeitskräftemangel in den USA, hektische Zinserhöhungen wohin man schaut. Ein dynamisches ökonomisches Umfeld mit großen Perspektiven. Gleichzeitig wächst gerade ob der Dynamik die Gefahr eines Rezessionsschocks.

Stuttgart 7. Mai 2022.

Die Schatten der Vergangenheit

Vor 77 Jahren war die freie Welt vereint im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Eigentlich ist genug Zeit vergangen, diese Episode der Geschichte ad acta zu legen, zumal sich der damalige Aggressor nachhaltig zu anderen Werten bekennt und der 8. Mai auch in hierzulande offiziell als »Tag der Befreiung« wahrgenommen wird.

Im Jahr 2022 steht die freie Welt vereint im Kampf gegen die Aggression Russlands. Den Konfliktparteien bietet der 8/9. Mai eine ideale Propaganda-Bühne. Es ist bezeichnend, dass der dt. Bundeskanzler zum Instrument einer Fernsehansprache greift und dt. Staatsorgane just an diesem Tag öffentlichkeitswirksam in der Ukraine weilen.

Kriege haben nur Verlierer

Nach dem traumatischen Verlauf des letzten Eroberungskriegs schwor sich die Staatengemeinschaft, diese Art der Kriegsführung zu ächten. Nach 1945 gelang es, geopolitische Konflikte in lokal begrenzten Stellvertreterkriegen auszufechten und auf globaler Ebene eine regelbasierte Friedensordnung zu etablieren.

Fast schien es, als ob die Menschheit kollektiv gelernt hätte. Ein Blick in die nähere Vergangenheit zeigt nämlich: militärische Landnahmen sind nie nachhaltig. Die Eroberungsfeldzüge Napoleons führten ebenso ins Desaster, wie der Versuch Österreich/Ungarns, den Balkan zu beherrschen. Die Kalkulation, dass der Verlierer dem Eroberer eine reiche Kriegsbeute bescheren würde, geht nur sehr selten auf.

Möglicherweise erklärt Moskau am 9. Mai die Annexion des Donbas durch Russland. Die Welt würde sich dann auf einen langen Stellungskrieg einstellen. Russland würde die Ausbeutung der Bodenschätze und die Nutzung der hervorragenden Ackerböden als Kriegsbeute begreifen. Dies würde von den Alliierten in Frage gestellt. Eine Materialschlacht im Stile des Vietnamkrieges wäre die wahrscheinlichste Verlaufsoption.

Zur Erinnerung: Der Vietnamkrieg war ein Stellvertreterkrieg mit Russland und den USA als kriegsfinanzierende Parteien. Erst als die USA ökonomisch ausgeblutet war, wurde eine Kapitulation ernsthaft in Erwägung gezogen.

Die Erfahrungen aus 40 Jahren Embargopolitik gegen den Iran zeigen, dass ein rohstoffreiches Land ökonomisch nicht in die Knie gezwungen werden kann. Die Kombination aus Embargo und aktiver Kriegsführung könnte den Erschöpfungszustand zwar schneller eintreten lassen. Bedingung für eine, wie auch immer geartete, Lösung des Konflikts ist aber, dass sich beide Seiten als Verlierer begreifen. Bis dahin sprechen die Waffen, die im Zuge steigender Marktzinsen irgendwie finanziert werden wollen. Diese Mittel fehlen an anderer Stelle.

Katalysator für eine Energiewende

Die Aussage, dass Kriege nur Verlierer produzieren, muss in einem Punkt eingeschränkt werden. In Europa beschleunigt sich den Prozess der Umstellung der fossilen Wirtschaft auf nachhaltige Energienutzung. Endlich gibt es eine Perspektive, die UN-Klimaziele tatsächlich zu erreichen. Klar: dieser Prozess hat viele Verlierer. Ohne den Krieg Russlands wäre es den demokratischen Staaten unmöglich gewesen, von ihren Bürgern die notwendigen Veränderungen zu verlangen.

Europa als Lokomotive

Kurzfristig sind Länder mit leichten Zugängen zu fossilen Energieträgern im Vorteil. Man kann erstens die eingespielten, kohlenstoffbasierten Prozesse weiter laufen lassen und erzielt durch den Verkauf von hochpreisigem Gas, Öl und Kohle Zusatzeinkünfte. Europa macht eine andere Rechnung auf: Jede Kilowattstunde substituierter Energie macht den Kontinent weniger erpressbar. Jede erfolgreiche Substitution ist eine Demonstration der Vitalität des »alten Kontinents« und stärkt den Anspruch auf Technologieführerschaft. Der embargobedingte Handlungsdruck ist ein handfester Wettbewerbsvorteil, insbesondere gegenüber den USA.

Dies setzt sich leider nicht unmittelbar in proportionale Preistrends um. Das müssen Aktionäre von Windmühlenherstellern gerade schmerzhaft erfahren. ESG-Fonds erfahren in der Breite aktuell sogar überproportionale Preisabschläge.

Neuordnung in Osteuropa

Kriegsbedingt ist die Bevölkerung Polens in den letzten Wochen um 8 % gewachsen. Die Nachfrage nach Wohnraum hat die Mietpreise in Warschau um 30 Prozent in die Höhe getrieben, staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheitsversorgung explodieren. Die Inflation hat 12 % überschritten.
Und dennoch dürfte Polen der größte Profiteur der neuen osteuropäischen Realität sein. Die inzwischen sehr intensiven bilateralen Beziehungen machen das Land zum Premiumpartner für den Wiederaufbau der Ukraine. Wichtig: Dieser begann mit der Inkraftsetzung des »Lend & Lease«-Programms1 durch die USA. Seitdem ist nämlich klar, dass Russland die Ukraine unmöglich überrennen kann.

Für alle Anrainerstaaten der Ukraine gilt: Die ökonomischen Vorteile des temporären Zustroms junger, teilweise gut qualifizierter Kriegsflüchtlinge wirken bereits nach wenigen Monaten.

Problem Staatsverschuldung

Umbrüche haben immer Zäsuren und Zwangspunkte. Geplant war, mittels des European Green Deals Investitionen für eine Transformation der fossilen Industrie gemeinschaftlich zu stemmen, ohne die hochverschuldeten Staaten zu destabilisieren. Nun muss gleichzeitig der größte Flüchtlingsstrom seit dem 2. Weltkrieg, die militärische Ausstattung, der Wiederaufbau der Infrastruktur der Ukraine und deutlich höhere Mittelabflüsse für Energieimporte gemanagt werden. Dies kann nur in Kooperation von Staaten und Finanzmärkten gelöst werden.

Derzeit funktioniert das ganz gut.

Abbildung 1: Renditen deutscher und italienischer Staatsabnleihen

Die Renditen für Staatsanleihen sind zwar stark gestiegen. Der Renditeaufschlag, den Italien derzeit zu zahlen hat, ist aber geringer, als 2020 (Corona-Lockdowns), 2018 (Regierungskrise Italien) und 2014 (Eurokrise).

Auch ohne Änderungen der Geldpolitik reduzieren die stark gestiegenen Marktzinsen die Schuldentragfähigkeit von Unternehmen und Staaten. In der vergangenen Woche wurden neueste Konjunkturdaten veröffentlicht: Die Auftragseingänge der produzierenden Industrie in Deutschland sind um 4,7 % gegenüber dem Vorjahr gesunken. Weniger Aufträge bedeutet weniger Umsätze + Gewinn = weniger Steuereinnahmen bei gleichzeitig steigendem Schuldendienst. Staatliche Spielräume zur Finanzierung nachhaltiger Infrastruktur schrumpfen!

Rezessionsrisiko

Die Masse der Marktteilnehmer geht ob des Zins- und Energiepreisschocks dieses Frühjahrs von einer Rezession im Herbst aus. Das ergab eine Befragung der Kollegen von Sentix in der vergangenen Woche.

Abbildung 2: Preisentwicklung des EuroStoxx und Volatilitäten

Dieses Szenario bildet auch der europäische Aktienmarkt ab. Seit dem Jahreswechsel hat sich ein Abwärtstrend ausgebildet. Die Notierungen sind durchschnittlich um 22 % gesunken. Die Volatilität ist seit Wochen mit 30 % erstaunlich konstant. In der Vergangenheit war dieses Volatilitätsniveau abseits akuter Marktstörungen eine gute Basis für mindestens konstante Notierungen. Die zentrale Botschaft der Volatilität: Marktteilnehmer haben sich auf breiter Front gegen Preiseinbrüche abgesichert.

Abbildung 3: Preisentwicklung des Russell 2000 und Volatilitäten

Auch in den USA sind die Aktienpreise deutlich gesunken. Der Russell 2000 hat zwei Schiebezonen ausgebildet. Zum Wochenschluß wurde die untere Begrenzung der seit Februar ausgebildeten Zone deutlich unterschritten. Seit November sind die Marktpreise um ein Drittel gesunken. Chart- und Marktechnisch ist der Markt ein bestätigter Bärenmarkt. Auch hier hat die Volatilität ein Niveau erreicht, dass eine Bodenbildung wahrscheinlich macht. Das Signal der Volatilität ist hier ein anderes: Es herrscht akuter Marktstress. Der Preisimpuls zur Unterseite zwingt zum Aufbau von Sicherungspositionen.

Marktregime: Bearmarket

Steigende Marktzinsen, explodierende Energie- und Rohstoffpreise, Quantitative-Tightening, die Perspektive auf eine Rezession im Herbst und (trotz des bereits ermäßigten Preisniveaus) teure Aktien lasten auf den Notierungen an den internationalen Aktienmärkten.
Ist die hohe Zeit eines Baermarkets angebrochen?

Abbildung 4: Die Mutter aller Bearmarkts – Dow Jones Industial 1929 bis 1932

In Baermarket-Phasen sinken die Marktpreise. Shortpositionen (wegen der hohen Volatilität sind verkaufte Call-Optionen probate Vehikel) dienen dem Kapitalschutz. Ein Blick auf die Abbildung 4 zeigt das Auf und Ab nach dem Kollaps der Notierungen im Jahr 1929: Bearmarkterallyes sind eine elementare Eigenschaft dieser Marktphasen. Wer nur auf fallende Notierungen setzt, wird von den dynamischen Erholungsphasen maximalem Stress ausgesetzt. Wer stur an Investments festhält, hat in dynamischen Abverkaufsphasen ebenfalls maximalen Stress.

Bewertungen sind kaum zurückgekommen

Abbildung 5: Inflationsadjustierte Aktienbbewertung des S&P 500 (Shiller-PE)

Schaut man sich die aktuellen Bewertungen von US-Blue-Chips an, könnte man auf die Idee kommen, die jüngsten Preisabschläge in den USA als ausreichend für eine nachhaltige Bodenbildung zu bezeichnen: Der aktuelle Wert liegt mit einem KGV von 20,8 an der unteren Begrenzung der Bewertungen seit 1990. Adjustiert man dies jedoch um Marktzins- und Inflationseffekte (CAPE-Ratio, Robert Shiller), sind Aktien immer noch ambitioniert bewertet.

In die gleich Kerbe schlägt auch Ray Dalio (Bridgewater) in seinem Blog Principled Perspectives. Rückblickend markierte der Jahreswechsel gemäß den Definitionen von Dalio den Zenit der jüngsten Assetpreisblase. Inzwischen sind die Marktpreise zwar etwas zurück gekommen, einige Kleinanleger haben sich auch wieder aus dem Markt zurückgezogen (Ablesbar am Kursverlauf von RobinHood) und das Sentiment ist im Keller. Das bedeutet aber nicht, dass die Blase entladen ist. Solche Prozesse dauern mindestens zwölf Monate. Trotzdem hat Warren Buffet gerade jetzt seine Cashquote medienwirksam reduziert (siehe letzter Wochenbericht).

Der US-Fernsehsender CNBC pflegt seit 2010 einen Investorservice »Markets in Turmoil”. Die Idee: Immer wenn die Redaktion Panik erkennt, ruft sie zum Kauf auf. Der Zeithorizont: 12 Monate. Die Minimalrendite: 4% (2.Mai 2018 )2, die bisherige Maximalrendite: 77% (23. März 2020). Am 5. Mai publizierte CNBC ein weiteres Signal. Die Wahrscheinlichkeit, auf Sicht von 12 Monaten mit einem passiven Handelsansatz am US-Aktienmarkt eine positive Rendite zu erzielen, ist rückblickend sehr hoch. Andererseits setzt der Sender dieses Handelssignal ob seiner scheinbar hohen Trefferquote immer offensiver ein. Auffallend ist, dass die Frequenz der »Market in Turmoil-Alters« stark gestiegen ist.

Resume

Der Sommer 2022 markiert eine Zeitenwende. Das Nullzinsregime hat ausgedient, genauso wie Quantitative Easing. Geld ist wieder knapp. Staaten, Unternehmen und Verbraucher müssen sich anpassen. Die Kapitalmärkte antizipieren eine globale Rezession. Gleichzeitig wollen elementar wichtige Klimaschutzmaßnahmen finanziert und umgesetzt werden. Ökonomischer Stillstand ist keine Option.

Das Ergebnis sind hochdynamische Kapitalmärkte. Die Stimmung ist viel besser, als sie nach den deutlichen Preissenkungen an den Aktienbörsen sein sollte. Das verhindert eine Rückkehr in einen Bullmarket. Andererseits sind die Marktteilnehmer auf sinkende Notierungen vorbereitet. Es muss gute Gründe geben, weitere Verkäufe zu orchestrieren. Im Zweifel zählt: The Trend is your Friend. Für den Sommer sind defensive Positionen angesagt, die auch bei moderat fallenden Notierungen einen Ertrag generieren.

Übergeordnet spült die aktuelle Entwicklung passive Investoren aus dem Markt. Das Preismuster 1929 bis 1932 mit der intensiven Abfolge von dynamischem Abverkauf und anschließender, nicht weniger dynamischer Bearmarktetrallye könnte eine Blaupause für die aktuelle Preisentwicklung sein.

Ressourcen

  • Eastern Europe’s economies — Bearing the brunt,
    The states hit hardest by war in Ukraine favour the toughest response, Economist, 7.5.2022, S. 32
  • Gap between Italian and German bond yields hits highest level in 2 years, Financial Times, 6.5.2022
  • Principled Perspectives: The Popping of the Bubble Stocks: An Update
  1. Adam Tooze hat in seinem aktuellen »Chartbook« die Bedeutung des »Lend und Lease«-Programms für den zweiten Weltkrieg herausgearbeitet. Die Kurzfassung: Dieses Programm war der Schlüssel für Intensität und Dynamik der Zusammenarbeit der Alliierten und in der Rückschau der Anfang vom Ende des Nazi-Regimes. Das Programm war Kriegsentscheindend und ist bis heute in den USA sehr positiv besetzt. Es bewirkte innenpolitisch eine Überwindung der Spaltung der politischen Insitutionen. 

  2. Hätte man 2018 auf das Folgesignal am 2. August gewartet, wäre die Jahresrendite mit 9 % doppelt so hoch. Das letzte Signal 2018 wurde am 27. Dezember generiert. Die 12-Monatsrendite dann: 32 %.