Am Donnerstag unterschritt der Index Intraday die Schwelle von 3.800 Punkten. Dank der Hoffnung auf ein rasches Ende der Kriegshandlungen erlebten die Aktienmärkte ab Handelsbeginn in den USA einen dynamischen Rebound.
Die Rede des US-Präsidenten zur Nation verstärkte den Trend, der durch ein “Kaufen, wenn die Kanonen donnern” eingeläutet wurde. Gemäß Bloomberg breitete sich an den Märkten eine patriotische Stimmung aus. Als an der Wallstreet die Schlußglocke klingelte, riefen einige voller Inbrunst “USA, USA …”. Am Freitag setzte sich der Rebound fort.
Gerade der Fakt, dass der Rebound in einem etablierten Abwärtstrend sehr dynamisch ausfällt, macht Hieronymus mißtrauisch. Die Marktreaktion trägt alle Anzeichen einer kurzlebigen, trendbestätigenden Baermarketrallye.
In Marktkommentaren wird auf einen geringeren Zinsdruck durch die Geldpolitik der Notenbanken hingewiesen. Das allein rechtfertige Preisaufschläge bei Aktien, schreiben die Journalisten. Zugegeben: Eine Kriegswirtschaft hat ihre eigenen Regeln. Es ist jedoch kein Szenario vorstellbar, dass zu einer Abflachung des Inflationsdrucks führt. Die Hoffnung, dass die Notenbanken unisono an der Nullzinspolitik festhalten, entstammt dem Wolkenkuckucksheim.
Ein Blick auf den Langzeitchart (Abb. 2) zeigt die Top-Bildung des Index sehr deutlich. Die Leistungsfähigkeit der europäischen Ökonomie entspricht aktuell der VorCorona-Periode. Der EuroStoxx 50 notiert aber 500 bis 1.000 Punkte über dem Preisniveau von 2019.
Der Kriegsbeginn in der Ukraine macht das Szenario einer Rückkehr in die VorCorona-Preisrange von 3.000 bis 3.500 Punkten im EuroStoxx Index wahrscheinlicher.
Die Marktteilnehmer haben gelernt, dass die Kombination aus Geld- und Fiskalpolitik jede Preisdelle des Aktienmarkts eine Kaufgelegenheit ist. Jede krisenhafte Entwicklung wird durch immer mehr Geld beantwortet. Das könnte auch nun wieder »helfen«.
Das Problem einer Kriegswirtschaft: Es werden Waffen und Munition produziert. Das sind konsumtive Ausgaben; sie tragen nur kurzfristig und einmalig einen positiven Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bei. Investition in den European Green Deal ziehen multible Folgeerträge nach sich und erzeugen einen langfristigen konjunkturellen Fußabdruck. Trotzdem dürften sich die Gesellschaften für die Kriegswirtschaft und gegen Investitionen in eine nachhaltige Ökonomie aussprechen.
In einer Kriegssituation aktivieren alle Beteiligen ihre Propagandawerkzeuge. Die NATO-Staaten sind indirekte Kriegsbeteiligte. Deshalb müssen alle politischen Äußerungen mit dieser Brille betrachtet werden. Sehr schön kann man dieses Umschalten des Kommunikationsmodus übrigens bei der deutschen Außenministerin beobachten.
Wie oben ausgeführt, hat die Rede des US-Präsidenten bereits am Donnerstag die gewünschten Ergebnisse gezeigt. Für die USA könnte diese Entwicklung kurzfristig vorteilhaft sein. Schließlich bietet es dem gewieften Rhetoriker Biden die Chance, die gesellschaftlichen Gräben zu schließen. Da die USA kaum unter den Sanktionen leidet, ist der Ausblick für die US-Wirtschaft konstruktiv. Trotz höherer Bewertung und unbestrittener Preisexesse sind US Aktien- und Währungs-Engagements nun attraktiv.
Investments in Europa müssen hingegen überdacht werden. Viele börsennotierte Unternehmen haben Niederlassungen oder Fertigungsstätten im Kriegsgebiet oder in Russland. Die Abnabelung Russlands vom SWIFT-Zahlungssystem erzwingt eigentlich eine sofortige Schließung dieser Unternehmensbereiche. Das betrifft die Autobauer Stellantis, Renault, Volkswagen, die Raiffeisen Bank, alle französischen, italienischen und deutschen Banken, natürlich sämtliche Energieunternehmen, insbesondere BP und Total.
Den Niederlassungen der Banken in Russland kommt eine besondere Rolle zu. Sie sind von dem Sanktionen ausgenommen und stellen nun die letzten Verbindungen des russischen Geldsystems zur Außenwelt. Hierüber können Energieexporte Russlands abgerechnet und die Produktion in den ausländischen Fertigungsstätten finanziert werden – zumindest theoretisch. Es ist eine politische Entscheidung, ob und welche Geldflüsse über die verbliebenen Auslandsbanken in Russland abgewickelt werden können.
Die Ukraine exportiert C4F6 und Neon, zwei inerte Gase für die Halbleiterindustrie. Bisher lieferten die Fabriken die Hälfte des globalen Bedarfs. Insbesondere die Unternehmen im sächsischen CyberValley sind betroffen. Die aktuelle Marktschwäche von Infineon hat in dieser Abhängigkeit ihre Ursache.
Das moderne Kriegshandwerk wird maßgeblich mit Maus und Tastatur ausgeübt. Drohnen übernehmen auf den realen Kampfplätzen die Drecksarbeit. Sie werden aus sicheren Kommandoständen gesteuert.
Virtuelle Kampfplätze sind mindestens genauso kriegsentscheidend. Die Ukraine hat alle Menschen mit Programmiererfahrung aufgefordert, Hackerattacken gegen die russische Infrastruktur zu starten.
Die Ukraine war unmittelbar vor dem Einmarsch der russischen Armee Opfer eines wiper-Cyberangriffs. Dabei werden die Festplatten der infizierten Computer irreversibel gelöscht (»gewiped«). Neben ukrainischen Unternehmen und Behörden waren auch Unternehmen in Litauen und Estland vom Cyberangriff betroffen. Russland ist gemäß des »Microsoft Digital Defence Report« (Oktober 2021) für 58 Prozent aller globalen Cyber-Attacken gegen staatliche Einrichtungen verantwortlich. Hauptangriffsziele: USA, UK und die Ukraine. Letztere hat sich seit 2014 zum “Ground Zero” für Cyberkriminalität entwickelt. Russland und die Ukraine führen seit der Besetzung der Krim einen immer schmutzigeren Cyberkrieg. Das so aufgebaute KnowHow ist ein großer Exportmarkt für das Land: 100 der 500 Fortune 500-Unternehmen nutzen ukrainische IT-Dienstleistungen für die eigene Cyber-Abwehr.
Unternehmen der kritischen Infrastruktur aller Nato-Staaten müssen perspektivisch mit immer ausgefeilteren Angriffen rechnen. Dazu gehören neben Banken Versorger, Transportunternehmen, Fluggesellschaften, die Bahn und natürlich Telekommunikationsunternehmen. Hier drohen dauerhafte Kostensteigerungen. Es gibt (neben den Hackergruppen) natürlich auch Profiteure: Cybersicherheitsunternehmen. Die meisten sind aber nicht börsennotiert. Man darf gespannt sein, wie sich diese Branche nun neu ordnet, welche Kooperationen eingegangen werden, welche Newcomer den Markt für sich besetzen werden.