Wochenbericht 16

Die Mühen der Ebene

Die akute Phase der Pandemie scheint vorüber zu sein. Damit auch die Phase panischer adhoc Maßnahmen der Nationalstaaten. Die Normalisierung hat jedoch ihre Tücken.

(Stuttgart, 18 April) Die Industriestaaten haben in den vergangenen sechs Wochen mehr als 8 Billionen US-Dollar als Soforthilfen für die Seuchenbekämpfung zur Verfügung gestellt. Die Frage, wo das Geld eigentlich herkommt, wurde geflissentlich ignoriert.

Nur Zeit gekauft

Dieses Geld wurde unproduktiv zur Verfügung gestellt, es dient einzig dem Zweck, Zeit zu kaufen, um Menschenleben zu retten. Für das Geld erwartet niemand eine klassische Rendite, jedermann ist froh, für eine Übergangszeit die Illusion intakter Industriegesellschaften aufrecht zu halten.

Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat die konjunkturellen Folgen graphisch aufbereitet.

Abbildung 1: Globales Wirtschaftswachstum mit Corona-Effekt (Quelle. IMF )

Rot dargestellt ist der Konjunktureinbruch gemäß der aktuellen Prognose gegenüber dem Ausblick im Januar. Die Autoren ermitteln eine Wertschöpfungslücke vom 9 Billionen US-Dollar und prognostizieren eine langfristige Minderung des Wirtschaftswachstums.

Unternehmen versuchen unabhängig zu bleiben

Seit Anfang März haben Unternehmen geschätzt eine halbe Billion Dollar am Kapitalmarkt akquiriert. Das Geld dient auch hier zum Stopfen akuter Liquiditätsengpässe, nicht zur Erschließung zukünftiger Ertragssquellen.

Es wurden im großen Stil Anleihen emittiert. Alternativ boten klamme US-Unter­neh­men institutionellen Anlegern und Hedge-Fonds Wandelanleihen mit hohen Kupons an. In der Konsequenz hat sich die Schuldenlast vieler Unternehmen nochmals erhöht (s.a. Wochenbericht 11: Credit Crunch). In Notzeiten bestimmen die Geldgeber die Konditionen: Unternehmen, die jetzt die Kapitalmärkte anzapfen müssen, akzeptieren restriktive Anleihekonditionen. Dies schwächt die Position der übrigen Share- und Stakeholder.

Die gute Nachricht ist weiterhin: Die Kapitalmärkte funktionieren. Es gelingt Unternehmen, Risiken des operativen Geschäfts gegen die Zahlung eines Zinses an die Marktteilnehmer weiterzugeben. Dies unterscheidet die Gegenwart von der Situation im Jahr 2008/9.
Hieronymus fügt ein »noch« hinzu. Gelingt es nämlich nicht, die Restriktionen rasch zu beenden, ist ein Dominoeffekt wie 2008 unausweichlich. Dies erklärt zumindest teilweise die verzweifelten Anstrengungen der Trump-Administration, entgegen aller Vernunft den US-Lock-Down so schnell als möglich zu beenden.

Abbildung 2: Preisentwicklung des US-Banken-Sektors

Die Preisentwicklung der US-Banken zeigt, dass der Finanzmarkt sich der Risiken eines derartigen Dominoeffekts bewußt ist. Die Bewertung von Banken folgt aktuell eher dem Muster der Finanzkrise denn der Entwicklung im Zuge des Platzens der Dot.Com-Blase.

Schuldenberg wird sichtbar

Auf seiner Frühjahrstagung präsentierte der IMF eine Übersicht über die erwartete Neuverschuldung der Staaten.

Abbildung 3: Staatsverschuldung 2019 und 2020

Das Stabilitätskriterium der Eurozone begrenzt die Neuverschuldung normalerweise auf 3 %. Selbst Deutschland verschuldet sich aktuell mit 6 % des BIP. Besonders betroffen ist Kanada, das zuvor einen ausgeglichenen Haushalt auswies und nun mit 11,5 % des BIP nach den USA die zweitgrößte Ausweitung der Staatsverschuldung hinnehmen muss. Wegen der massiven Neuverschuldung der USA ist die durchschnittliche Neuverschuldung der Industriestaaten 2020 höher als 10 % des BIP.

Die Neuverschuldung der Industriestaaten stellt die Krisenantwort des Jahres 2008 deutlich in den Schatten.

Der IMF weist auf die kommenden Herausforderungen hin:

  • Kurzfristig wirken die fiskalischen Stimulie-Maßnahmen konjunkturstützend.
  • Mittelfristig müssten die Regierungen in allen Ländern Steuern erhöhen und die Staatsausgaben senken. Das heißt: staatliche Investitionen gehen perspektivisch zurück. Arbeiter und Unternehmen erwartet eine Phase mit höheren Abgaben. Geringerer Konsum und geringere Spielräume für Zukunftsinvestitionen sind die Konsequenz.
  • In den Schwellenländern wird die Zinslast der Staatshaushalte von aktuell 20 Prozent der Steuereinnahmen auf über 30 % steigen. Das ist keinesfalls nachhaltig. Es droht eine Reihe von Staatspleiten.

Ob die Industriestaaten die zusätzliche Schuldenlast tragen können, hängt von der absoluten Höhe der Staatsschulden und dem vom Finanzmarkt geforderten Zins ab.

Die Verschuldung der USA ist seit der Amtsübernahme durch D.T. von 100 auf 107 Prozent des Brottoinlandsprodukts gestiegen. Pandemiebedingt erhöht sich dies nun schlagartig auf über 120 %. Die italienische Staatsverschuldung steigt auf 143 % des BIP. Zum Vergleich: In Deutschland wird ein Anstieg der Verschuldung auf etwa 70 % des BIP erwartet.

Für die Eurozone ist nicht die absolute Höhe der Haushaltsdefizite das Kernproblem, sondern die großen Unterschiede zwischen den Ländern des Nordens und den hochverschuldeten Ländern des Südens. Da zum wiederholten Mal die Schaffung eines einheitlichen Kreditmarktes der Eurostaaten blockiert wurde, erwartet uns spätestens ab Herbst ( ggf. auch erst nach den Wahlen in den USA ) eine Wiederholung der Diskussionen der Jahre 2011-13; eine Euro-Krise reloaded!.

Wirtschaftliche Schäden größer als 2008, Finanzmärkte reagieren aber nur schwach

  • Im Zeitraum November 2007 bis Februar 2009 halbierte sich der Wert des EuroStoxx von 4500 auf 2200 Punkte.
  • Vom 7. März bis zum 16. März 2020 sank der Index von 3850 auf 2300 Punkte. Am 17. April notiert der EuroStoxx bei 2850 Punkten.
  • Während der Finanzkrise sank das BIP in der Eurozone um 4,5 %.
  • Der IMF prognostiziert aktuell für Europa eine Kontraktion des BIP um 7,7 %.

Auch während der Finanzkrise intervenierten die Notenbanken zeitnah. Die gegenwärtige Robustheit der Finanzmärkte ist beachtlich!

Das liegt an der Erwartungshaltung der Marktteilnehmer.

Abbildung 4: Wirtschaftswachstum in Großbritannien mit Mainstreamprognose (Quelle: Office for Budget Responsibility, London)

Man ist der festen Überzeugung, den Peak zur Unterseite eingepreist zu haben und richtet seine Augen (und Anlageentscheidungen) nun auf die zu erwartende Boom-Phase.

Die Abbildung 4 zeigt aber schön, wie einzigartig eine derartige Entwicklung wäre. Im gesamten, wahrlich nicht krisenarmen zwanzigsten Jahrhundert überschoß die Konjunktur niemals unmittelbar nach einer schockartigen rezessiven Entwicklung. Richtig ist: jedesmal erholte sich die Gesellschaft, auf eine Rezession folgt regelmäßig eine Phase der Hochkonjunktur. Aber niemals in der vom Markt aktuell antizipierten Weise.

Zweite Welle – bei der Pandemie und an den Finanzmärkten

In den kommenden Wochen lockern die meisten Staaten weltweit die restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Das Primat der Politik weicht den Erfordernissen der Wirtschaft. Kein Land kann es sich leisten, die Lock-Down-Phase aufrecht zu halten, wenn die Nachbarstaaten die Rückkehr zur Normalität eingeleitet haben.

Ein Emporschnellen der Infektionszahlen ist unausweichlich, eine zweite Infektionswelle nur eine Frage der Zeit. Nicht einmal Singapore hat es vollbracht, auch nur eine minimale Öffnung der Gesellschaft ohne eine machtvolle Rückkehr des Virus zu orchestrieren. Dort explodieren aktuell trotz wieder eingeführter Bewegungsbeschränkungen COVID-19-Neuinfektionen. Südkorea stemmt sich mit noch drastischeren Maßnahmen gegen eine erneute Steigerung der Fallzahlen. Selbst in China, wo die Überwachung allumfassend scheint, breitet sich das Virus immer wieder unkontrolliert aus. Der Aufwand zur Nachverfolgung der Infektionsketten ist überall hoch.

Willkommen in der Realität, mindestens bis zur Verfügbarkeit eines COVID-19 Impfstoffes.

Spätestens wenn die Infektionszahlen in Europa nicht weiter sinken, dürften die Finanzmärkte den Kaninchenblick auf die kommende Erholung ablegen. In dem Maße, wie die tatsächlichen konjunkturellen Einbußen nicht mehr durch staatliche Hilfsprogramme abgefedert werden können, steigt die Gefahr einer zweite Verkaufswelle.

Genügend Munition für erneute Abgaben ist vorhanden: Die erste Verkaufswelle traf die Marktteilnehmer unvorbereitet und erfolgte so schnell, dass institutionelle Marktteilnehmer kaum reagieren konnten. Kippt der Trend, sind diese vorbereitet. Private Investoren sind in den letzten Wochen sogar wieder in den Markt zurückgekehrt und aktuell höchstwahrscheinlich wenig Verlusttolerant.

Fazit

Die Hoffnung auf eine Normalisierung des Lebens im Zuge der Abschaffung der restriktiven Maßnahmen in der Lock-Down-Phase prägt aktuell das Geschehen an den Finanzmärkten. Die Blicke ruhen auf Wachstumsprognosen für 2021. Gern folgt man der Auffassung, dass die staatlichen Maßnahmen und die Zyklik direkt in eine prosperierende Boom-Phase führen.

Falls schnell eine preiswerte COVID-19-Impfung verfügbar ist, geht diese Kalkulation tatsächlich auf.

Die Ausrichter der Olympischen Spiele hoffen, dass im Sommer 2021 ein Impfstoff verfügbar ist.

Derzeit ist dies Zukunftsmusik. Die COVID-19-Musterländer in Asien zeigen, wie die Realität bis dahin aussieht. Der Aufwand zur Eindämmung des Virus ist weiterhin hoch, die sozialen Beschränkungen können nicht dauerhaft aufgehoben werden. Eine rasche wirtschaftliche Erholung ist unter diesen Rahmenbedingungen schwer vorstellbar.

Falls es tatsächlich gelingt, die Pandemie ad acta zu legen, lasten die finanziellen Aufräumarbeiten auf den Gesellschaften. Hohe Steuerlasten für Arbeiter, Unternehmen und Kapitalisten schöpfen den erzeugten Mehrwert immer wieder ab und begrenzen die wirtschaftliche Dynamik. Die Aufwendungen für den Klimawandel und die Finanzierung des demographischen Wandels lasten zusätzlich auf den Finanzmärkten.

Kurzum: Die Mühen der Ebene werden wir so rasch nicht überwinden können.

Die Woche an den Finanzmärkten

  • USA März 2020: Historische Kontraktion
    • Industrieproduktion: -5,4 %. Stärkster Rückgang seit 1946.
    • Einzelhandelsumsäze: -8,7 %. Stärkster Rückgang seit Beginn der Aufzeichnung 1992.
    • Gastronomie: - 27 %
    • Benzinabsätze: -17 %
    • Bekleidung: -50 %
    • Autos + Möbel: -25%
    • Neubaubeginne Eigenheim: - 22,3 %

    Im März war im überwiegenden Teil der USA die meiste Zeit noch Business as Usual. Im April erwarten viele weitere Umsatzrückgänge.

  • Ford: Wir sind bereit, 11 % Kreditzinsen zu zahlen.
    Wie andere Automobilbauer auch, kann Ford derzeit keine Autos verkaufen. Die meisten Mitarbeiter sind in Zwansgsurlaub. Für das erste Quartal erwartet das Management einen Verlust von 2 Mrd. $ (Q1 2019: 1,1 Mrd. $ Gewinn). Um weiter seine Rechnungen zahlen zu können, zapft Ford den Kapitalmarkt an. Man begibt eine Anleihe mit 10 Jahren Laufzeit (1 Mrd. $), zusätzlich je 3,5 Mrd.$ mit Laufzeiten von drei und fünf Jahren. Das Angebot von 8 Mrd. $ traf auf eine Nachfrage von mehr als 20 Mrd. $. Am Ende einigte man sich auf Zinssätze von 9,625 % (10 a), 9,0 % (5 a) und 8,5 % (3 a).
    Das Risiko ist evident: 2009 wurde GM zwar vom Staat gerettet, die privaten Gläubiger erlitten jedoch einen Totalverlust. Da der aktuelle Einbruch am PKW-Markt ungleich größer ist, ist es wahrscheinlich, dass auch diesmal große Automobilkonzerne insolvent werden.
    Abbildung 5: Preisverlauf der Ford-Aktien

    Der Chart zeigt schön, dass Ford-Aktien bereits mehrere Jahre stetig preiswerter wurden. Die Pandemie hat den Trend nur verstärkt. Die frischen Gläubiger setzen darauf, dass zumindest das Schlimmste hinter dem Autokonzern liegt.
    Die Tatsache, dass Ford sich am Anleihemarkt die Finanzierung der gegenwärtigen Situation bis Jahresende gesichert hat (2 Mrd $ Verlust pro Quartal = 8 Mrd. Verlust pro Jahr), spricht allerdings Bände.

  • Argentinien: Schuldenschnitt oder 9. Default.
    Das Land hat ausstehende Fremdwährungsverbindlichkeiten von 83 Mrd. $ bei privaten Gläubigern, zusätzlich 44 Mrd. $ beim IMF. Nach der nicht geleisteten Auszahlung Anfang April (Wochenbericht 15) musste sich der Finanzminister den Gläubigern stellen. Sein Angebot: Argentinien wird seinen Rückzahlungs­ver­pflich­tungen nachkommen – nachdem die Anleihekonditionen an die Realität angepasst sind. Die Details:
    1. Die Gläubiger verzichten für drei Jahre auf Zins und Tilgung.
    2. Ab 2023 zahlt das Land wieder Zinsen. Das Zinsniveau wird um 62 % gesenkt. Die Gläubiger verzichten damit auf 38 Mrd. $ an Zinszahlungen.
    3. Die Anleihen werden fristgemäß getilgt. Die Gläubiger müssen auch hier einen Abschlag in Höhe von 5,4 % hinnehmen.

    Die Gläubiger haben bis zum 20. Mai Zeit, sich mit dem Finanzminister auf die Restrukturierung zu einigen. Dann wird die nächste Zinszahlung fällig. Versäumt das Land diese Zahlung, ist das Land wieder einmal Default und für die nächsten Jahre vom internationalen Kapitalmarkt ausgeschlossen. Davon wäre auch der IMF-Kredit betroffen. Dies hätte weitreichende Konsequenzen für die Kreditvergabe des IMF an andere Staaten.

  • Erdöl: Preis fällt trotz Produktionskürzungen weiter.
    Am Freitag fiel der Preis für ein Barel Erdöl in den USA auf 18 US-Dollar. Die ver­ein­barten Produktions­kürzungen laufen ins Leere. Hoffnung schöpfen viele mit Blick auf die Futurepreise. Kontrakte, die eine Lieferung im Juni erfordern, kosten aktuell 25 $. Toll: also steigt der Ölpreis bald wieder, denken einige. Anlageprodukte mit Öl als Basis weisen aktuell hohe Mittelzuflüsse aus. Der United States Oil ETF dominiert den Markt. Er hält allein 25 Prozent des OpenInterest an WTI-Öl-Futures. Der Fonds berichtet über Zuflüsse von 1,5 Mrd. $ pro Woche. Soviel Optimismus auf der Anlegerseite ist meist ein ausgezeichneter Kontraindikator. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Eigenschaften des Anlageinstruments. Der Fonds kauft für das ein­ge­zahlte Geld Öl-Futures. Die Kontrakte werden regelbasiert kurz vor der Fälligkeit in längere Laufzeiten gerollt. Öl notiert aktuell sehr stark in Contango, jedes Rollen kostet Geld. Die Anleger setzen darauf, dass eine stärkere Konjunktur­erholung folgt, als es die Marktteilnehmer am Ölmarkt in der Forwardkurve am Terminmarkt ein­gepreist haben. Das ist sehr riskant.
    Auf der anderen Seite legt der langfristige Preisverlauf natürlich die Ausbildung eines Preisbodens nahe.
    Abbildung 6: Preisverlauf für US-Crude Öl

    Der IMF geht bis 2021 in seinem Jahresausblick von einem Anstieg des Ölpreises von 6,3 % aus. Das bedeutet einen dauerhaft niedrigen Ölpreis (< 30 $/barel).