Branchen, die auf Staatshilfen angewiesen sind, können maximal ihren Gläubigern zugesagte Zinsen zahlen1. Aktionäre gehen leer aus. Hiervon sind diesmal sehr viele betroffen. Die FT schätzt, dass Ausschüttungen britischer Unternehmen 2020 gegenüber dem Vorjahr um 50 Prozent sinken. Auf europäischer Ebene dürfte das Bild ähnlich aussehen. Selbst für die USA erwarten Analysten einen Rückgang der Ausschüttungen um mindestens 30 Prozent.
Diese Entwicklung ist insofern kritisch, weil die derzeit aktiven Aktionäre keine Erinnerung an Phasen mit ausgefallenen Dividenden haben und die Folgen höchstwahrscheinlich falsch einschätzen. In der häufig als Referenz herangezogenen Finanzkrise 2008 zahlten die Unternehmen überwiegend die zugesagten Dividenden. Damals galt dies als Vertrauensbildungsinstrument für die Aktionäre. Heute fällt es Unternehmen leicht, eine Dividendenkürzung zu kommunizieren. Sie werden hierfür aktuell auch nicht vom Finanzmarkt bestraft. Das neue Narrativ lautet: Unternehmen halten so ihre Cash-Quote hoch und sind so besser für das akute Krisenmanagement gerüstet. Aktionäre müssen sich gedulden.
Das ist sicherlich richtig, verkennt aber die Tatsache, dass über Financial Engineering vielfach systematisch die Substanz von Aktiengesellschaften ausgehöhlt wurde. Die erzwungene Aussetzung der Dividendenzahlungen ist ein willkommener Anlass, diese nicht nachhaltige Entwicklung zu revidieren. Das ist positiv für die Stabilität von Unternehmen. Die Position der Stakeholder wird gestärkt, Shareholder haben das Nachsehen.
Genau dieser Prozess ist in den Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit in UK und den USA regelmäßig abgelaufen. Kollektive Dividendenstreichungen waren rückblickend Verkaufssignale für Aktienangagements. Hieronymus ist der Auffassung, dass sich die Gegenwart in dieser Hinsicht kaum von den Krisen der Vor-Neoliberalen Epoche unterscheidet. Sicher: der Auslöser der krisenhaften Entwicklung ist einmalig. Die Marktreaktion auf einen derartigen Schock folgt aber eingespielten Mustern.
Das liegt auch an Zwängen, die sich im zurückliegenden neoliberalen Regime ausgebildet haben.
Die Neoliberale Epoche (1990 – 2020) führte auch zu einem Paradigmenwechsel bei Pensionskassen. Im 20. Jahrhundert waren die Depots fast ausschließlich mit Anleihen bestückt. Während der Dot.Com-Hausse hoben viele Pensionkassen ihre Aktienquoten bis 30 Prozent an – und fuhren ab 2000 große Buchverluste ein. Danach kehrten die Vermögensverwalter zu festverzinsten Produkten zurück – und wurden während der Finanzkrise mit ABS, MBS und CDO’s wieder mit großen Verlusten konfrontiert. Seit 2010 verlieren festverzinste Geldanlagen wegen der expansiven Geldpolitik vieler Notenbanken kontinuierlich an Attraktivität. Seitdem erhöhen die Pensionskassen weltweit wieder ihre Aktienquoten – diesmal mit dem Fokus auf Dividenden.
Neben den USA, Kanada und UK setzen auch viele asiatische Länder auf kapitalmarktfinanzierte Alterssicherungssysteme. Das Volumen der Pensionskassen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. In Australien, Japan, Korea, Malaysia und Hongkong übersteigt das dort angelegte Kapital die Hälfte des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts. Die Pensionskassen setzen neben Erträgen aus Dividendeneinnahmen immer mehr auch auf Mieteinnahmen aus Immobilienbesitz. Mangels Aufnahmekapazität der heimischen Kapitalmärkte investieren die Fondsgesellschaften global.
Die jüngste krisenhafte Entwicklung trifft die Pensionskassen wieder ins Mark.
Gleichzeitig müssen die Pensionskassen ihren Auszahlungsverpflichtungen nachkommen. Hierfür wird zuerst die gesetzlich geforderte Cash-Quote angezapft. Verbessert sich der planbare Ertrag aus den Investments nicht, müssen kontinuierlich Assets aufgelöst werden.
Nicht-strategische Beteiligungen stehen permanent zur Disposition. Steigende Marktpreise werden unmittelbar zur Liquidierung genutzt, bis die erzielbare Rendite von Aktien- und Immobilienbeteiligungen die Zahlungsversprechen der Pensionskassen abdeckt.
Die hieraus abzuleitende Perspektive für die Entwicklung der Aktienpreise lässt sich gut anhand des japanischen Aktienmarktes nach 1990 darstellen. Jede kurzfristige Erholung der Marktpreise wurde über Jahrzehnte konsequent zum Abbau von Positionen genutzt.
Man kann sich nun trefflich streiten, in welcher Phase des im Abb. 2 dargestellten Preisverlaufs wir uns derzeit befinden. Hieronymus schätzt, dass die erste Erholung bei 25.000 Punkten die Gegenwart gut abbildet. Fakt ist: Es gibt wenig Gründe, eine «V-förmige Erholung« zu antizipieren. Maximal pendeln die Indexstände in den nächsten Monaten in einer noch auszuhandelnden Spanne um das gegenwärtige Preisniveau.
Für den Herbst fordert der Verband der Automobilindustrie bereits ein umfangreiches staatliches Hilfsprogramm zur Förderung des Absatzes von Autos mit Verbrennungsmotor. Hieronymus vermutet, dass die Politik aus den Fehlern des Jahres 2008 gelernt hat und einen Kapitaltransfer der Staatsgelder in den Kapitalmarkt verhindert. Es ist unwahrscheinlich, dass die Automobilhersteller in absehbarer Zukunft ihre Dividendenzahlungen wieder aufnehmen.
Dies gilt, solange die Unternehmen nicht verstaatlicht werden. Gläubiger von Lufthansa und Tui müssen hoffen, dass der Staat einschreitet, ohne dass ein Insolvenzantrag gestellt wird. Falls die »Rettung« von General Motors im Jahr 2009 als Blaupause taugt, ist ein Ausfall der Anleihen der Unternehmen nur eine Frage der Zeit. Dies preist der Markt gegenwärtig jedoch nicht ein (Rendite von Lufthansa-Anleihen: 2,8% (Fälligkeit: 2024) ) ↩