Wochenbericht 6

Nebenwirkungen von ETF-Investments

Gegen alle Vernunft klettern die Marktpreise. Klar: Die Biden-Administration gibt Gas, endlich ziehen die G7-Finanzminster an einem Strang. Und auch die Pandemie scheint beherrschbar. Doch der Markt hat möglicherweise ein grundsätzliches Problem: ETF-Investments, die stetig Marktrisiken induzieren. Das Bild vom gekochten Frosch drängt sich auf.

Stuttgart, 13. Februar 2021.

Seit einem Jahr befindet sich die Welt im Pandemie-Modus und dennoch gleicht die Gegenwart an den Finanzmärkten auffällig der Situation vor 12 Monaten. Das ist kein Zufall.

Im Februar 2020 grassierte das Corona-Virus noch unbemerkt in Ischgl. China befand sich bereits im LockDown. Die chinesische Notenbank flutete die Finanzmärkte mit Liquidität (nachzuschlagen bei: Test der Wertschöpfungsketten) und lieferte damit die Blaupause für die globale fiskalische Krisenantwort.

Die Aktienmärkte in Europa und den USA ignorierten Pandemierisiken und markierten unverdrossen neue Höchststände. Im vierten Quartal 2019 war das Wirtschaftswachstum in Europa zwar anämisch, aber es gab eine neue EU-Kommission mit weitreichenden Klimaschutzzielen und einem European New Deal). In den USA befeuerte die Trump-Administration die Konjunktur mit einer weiteren, prozyklischen Ausweitung der Staatsverschuldung (The Great Treasuries Binge). Die Wiederwahl von Donald Trump war ein No-Brainer. Verschuldungsgrenzen schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Die (Finanz-)Welt war bereits auf eine massive Ausweitung von Staatsdefiziten vorbereitet.

Zwei Wochen später sollten sich die Ereignisse dennoch überschlagen.

Damals wie heute reflektieren die Marktpreise Zukunftserwartungen, die Investoren massiv in risikobehaftete Assets gelockt haben.1 Im Februar 2020 war man guter Hoffnung, dass drastische Maßnahmen in China das Virus einhegen würden. Die verbliebenen Pandemierisiken wurden von der Aussicht auf massive fiskalische Anreize übertüncht. Heute sind, angesichts der Rückkehr der »Erwachsenen« ins Weiße Haus, einer Aussicht auf disruptive Ertragsquellen, die sich auf magische Weise im Zuge der nachhaltigen Transformation der Industriegesellschaften erschließen lassen, und der offensichtlichen Alternativlosigkeit risikobehafteter Investitionen, spekulative Geldanlagen beliebt wie nie.

Konsequenz: Kaum waren die Marktpreise wegen der Irritationen um die Preistreiberei der rWallstreetbets-Protagonisten im Januar marginal gesunken, fluteten institutionelle Anleger die Märkte: Innerhalb nur einer Woche flossen 58 Milliarden US-Dollar in Aktieninvestments, hauptsächlich in US-Aktien. Gemäß dem Datenprovider EPFR ein neuer Rekord. Das Ergebnis:

Stock and Dept valuations are above-average on all measures2

Die Bank of America gab bekannt, dass die Aktienquote bei Private-Banking-Kunden mit 63 Prozent einen Allzeithöchstand erreicht hat und derzeit sogar die Werte aus der Dot.Com-Ära übertroffen werden.

Doch nicht nur die Klasse der Vermögenden ist massiv in Aktien investiert. Charles Schwab, ein klassischer Online-Broker, freute sich über eine Flut von Kontoeröffnungen: Im Januar wurden 200 Prozent mehr Konten eröffnet, als ein Jahr zuvor. Aktienspekulationen sind in den USA unglaublich populär. Auch wenn rWallstreetBets-Daytrader jüngst die Schlagzeilen dominierten, die Masse der Engagements erfolgt weltweit über passive Anlageformen.

Diese scheinen einfach und gerecht zu sein. Ein preiswertes Produkt deckt ganze Marktsegmente ab. Ein ETF auf den S&P-500 investiert in die 500 besten US-Unternehmen. Was kann daran problematisch sein?
Doch: Diese Anlageform bewirkt ein schleichendes Aufschaukeln der Risiken und ist maßgeblich für die derzeitige fibrige Marktstimmung verantwortlich, wie auch für die Situation vor genau einem Jahr.

Ein Dollar Anlagekapital entsprechen 17 Dollar Marktbewertung

Auf diese griffige Formel reduzierte Logic-alpha, ein Hedgefond, bereits vor etwa einem Jahr den destruktiven Effekt passiver Investments auf die Aktienmärkte. Der Hintergrund: aktiv gemanagtes Vermögen bewertet die Portfoliobestandteile und vermeidet den Zukauf offensichtlich überbewerteter Assets. Passiv angelegtes Vermögen repliziert Indizes. Das Ergebnis: Hoch gewichtete (im Zweifel überbewertete) Indexkomponenten erfahren überproportionale Zuflüsse. Erhöht sich hierdurch das Gewicht der Titel im Index, sind auch alle übrigen, den Index replizierenden Fonds gezwungen, die Titel nachzukaufen. Das treibt die Werte nochmals an. Ein Initialinvestment induziert so eine Kaskade von Folgeinvestments; allein die Konstruktion passiver Anlageinstrumente treibt die Marktpreise phasenweise stark an.

Passive Investoren kapitalisieren systematisch Wachstumsunternehmen

Eine gesunde Volkswirtschaft ist divers und gerecht zugleich. Auf die Kapitalmärkte bezogen bedeutet dies: Unternehmen haben branchenunabhängig einen fairen Zugang zu Kapital. Dies wird meistens durch den Dreiklang Politik/Banken/Notenbank gewährleistet. Die Politik sichert durch Besteuerung und Wirtschaftsförderung ein prosperierendes Umfeld. Banken konkurrieren um die Bereitstellung von zinsgünstigen Krediten und die Notenbank sorgt für niedrige Zinsen und die Abwesenheit von Inflation.

Kapitalmärkte reagieren auf das Umfeld. Die dort realisierte Marktkapitalisierung ist vielerorts die Basis für den Zugang zu preiswertem Fremdkapital. Nachvollziehbare Marktbewertungen stützen so ökonomische Prosperität.

Was passiert, wenn die Kapitalmärkte Substanzwerte systematisch geringer bewerteten als Wachstumstitel?

Substanzwerte zeichnen sich durch gewachsene Geschäftsmodelle und bewährte Ertragsstrategien aus. Sie bilden den ökonomischen Unterbau: Telekommunikation, Versorger, Versicherungen, Banken, Bauwirtschaft, Immobilien, etc. Ertragswerte schütten – wie der Name es andeutet – regelmäßig Dividenden aus. Sie eignen sich für Realisierung langfristiger Ertragsströme, z.B. für die Finanzierung von Pensionszusagen.

Wachstumswerte verzichten auf Ausschüttungen. Die Unternehmen verwenden sämtliches Kapital (und noch mehr) für die Finanzierung ehrzeiziger Wachstumsziele. Investoren werden auf die Zukunft verwiesen. Irgendwann – so die Unternehmenskommunikation – gehen uns die Investmentziele aus, dann schütten wir die Erträge an die Aktionäre aus.

Ist ein Wachstumsunternehmen erfolgreich, steigt sein Marktwert. Gegenüber einem Substanzwert hat ein Wachstumsunternehmen einen Vorteil: Dividendenzahlungen reduzieren den Marktwert. Bei identischen Unternehmenszahlen steigt die Gewichtung von Wachstumsunternehmen in Indizes allein wegen der Thesaurierung der Dividenden.

Dominiert nun zusätzlich das Investieren in den gesamten Index das Marktgeschehen, verstärkt sich dieser Effekt. Weil Wachstumswerte höher gewichtet sind, empfangen sie größere Geldströme, ihre Gewichtung steigt schneller, als die der Substanzwerte. Konsequenz: Wachstumswerte dominieren die Kapitalmärkte immer mehr. Anders ausgedrückt: Die Aktienmärkte werden allein durch den Trend hin zu passiven, indexbasierten Geldanlagen immer spekulativer. Das lässt sich anhand des Quotienten Marktkapitalisierung Wachstumswerte/Substanzwerte längerfristig schön zeigen.

Abbildung 1: Marktverzerrung durch passive Investmentformen. Quelle: Logic-alpha)

Umgesetzt auf den klassischen Anleihehandel bedeutet dies: Passive Investments verlängern systematisch die Duration im Anlageportfolio. Dies macht die gehaltenen Wertpapierbestände zinssensitiver. Anleger, die wegen zuletzt deutlich gestiegener Inflationsprognosen dem Anleihemarkt den Rücken zukehren, haben faktisch kaum etwas gewonnen.

Zwischenfazit: Wie ein roter Faden zieht die Observation massiv überbewerteter Assetpreise die vergangenen Wochenberichte. Die Überbewertung wird durch eine Kombination wohl einmaliger Ereignisse gespeist. Ein Ende dieser Marktphase ist nicht absehbar. Das Unbehagen wächst aber mit jeder weiteren Preiserhöhung für Aktien.

Abbildung 2: Performance von Unternehmen ohne profitables Geschäftsmodell in den vergangenen 12 Monaten (Quelle: Goldman Sachs)

Gegen alle Vernunft sind die Aktienpreise für Unternehmen ohne Geschäftsmodell, teilweise ohne operatives Geschäft und ohne Webseite auf breiter Front geradezu explodiert. Maßgeblich für diesen Trend sind – ausgerechnet – passive ETF’s, die jedermann auch breite Investments in exotischen Ecken des Kapitalmarktes erlauben. Üblicherweise muss man für die Spekulation in diese Titel Expertenwissen vorweisen. Die Titel sind immer markteng, spontane Käufe oder Verkäufe sind nicht möglich. Wie getätigte Investments in die marktbreiten ETF’s im Falle größerer Rückgabewellen auf der Ebene der Einzelaktien zurückgeführt werden können, bleibt ein Geheimnis der ETF-Betreiber.

Streßtestniveau verschärft

Seit der Finanzkrise 2007/8 müssen die großen Banken jährliche Stresstests absolvieren. Nur wenn sie bestehen, dürfen sie Dividenden zahlen oder eigene Aktien zurückkaufen. Im vergangenen Jahr prüfte die FED in den USA angesichts der heftigen Preisverwerfungen des Frühjahrs, ob die Banken einen plötzlichen Preisrutsch um 50 Prozent überstehen werden und die Arbeitslosigkeit auf 12,5 % steigt.

Angesichts gestiegener Risiken wurde das Szenario verschärft: Das Basisszenario sieht für die Aktienmärkte im Herbst 2022 einen Einbruch von 55 % vor. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit auf 10,75 % und entsprechend fallen Kredite aus. Das GDP sinkt in dem neuen Szenario um 4 %.

Streßtestszenarien haben natürlich keinerlei Prognosekomponente. Sie sagen aber viel über die Risikowahrnehmung bei den Entscheidungsträgern aus. Interessant ist auch, was nicht abgetestet wird: Ein Inflationsschub zum Beispiel. Angesichts steigender Rohstoffpreise werden bereits Jahresinflationen von 4 Prozent und mehr herumgereicht. Bitter für Anleihegläubiger, wie es Banken vielfach sind.

Fazit: Anfangs wurde auf die Metapher des gekochten Frosches verwiesen. Dieser lebt bekanntlich je mehr auf, desto wärmer das Wasser in seinem Topf erhitzt wird, fühlt sich sichtlich wohl und registriert nicht, dass er gerade gekocht wird. Das Geheimnis dieses inhumanen Tierexperiments ist die Geschwindigkeit des Temperaturanstiegs. Er muss nur langsam genug erfolgen.

Genauso ergeht es Kapitalanlegern angesichts der Möglichkeit, mit einem Mausklick und dazu unglaublich preiswert, ganze Assetklassen zu allokieren. Über einen sehr langen Zeitraum haben sich inkrementell systemische Risiken aufgebaut. Die Bewertungen an den Kapitalmärkten steigen immer weiter an, Aktieninvestments sind heute deutlich spekulativer, als vor 20 oder 40 Jahren.

Klar ist auch: Es gibt Rückkopplungsschleifen, die die Marktbewertungen zu gegebenen Zeitpunkten wieder auf das Normalmaß zurückführen. Es liegt leider in der Natur der Sache, dass weder Zeitpunkt noch Intensität derartiger Marktkorrekturen zuverlässig prognostiziert werden können.

An die letzte Marktkorrektur vor dem Einbruch 2020 erinnern sich vermutlich nur die Wenigsten:

Abbildung 2: Preisverlauf des DAX im Jahr 2018 (Quelle: Trading Economics)

2018 verarbeiteten die Finanzmärkte die Wohltaten der Steuerpolitik der Trump-Administration. Global ermäßigten sich die Assetpreise ohne meßbaren Bezug zur realen Ökonomie temporär um etwa zwanzig Prozent.

Temasek wechselt CEO und wird grüner

Etwa 20 Prozent der Staatseinnahmen Singapores generieren Zinserträge der Notenbank und die beiden Staatsfonds PIF und Temaek. Seit 2004 leitet Ho Ching, die Frau des Ministerpräsidenten, Temasek. Für den nachhaltigen, klimagerechten Umbau des Anlageportfolios ist seit zwei Jahren Dilhan Pilley zuständig.

Pilley übernimmt ab Oktober die Führung von Temasek. Er tritt mit einer ausgesprochen grünen Agenda an: Im Beteiligungsportfolio will Pilley die Emissionen bis 2030 halbieren. Basisjahr ist das Jahr 2010. Dazu hat er eine Bewertung von Beteiligungen nach ihrer Kohlenstoffintensität eingeführt und besitzt nun ein wirksames Steuerungsinstrument für das Bestandsportfolio wie für die Investitionspolitik.

Die Klimabilanz von Temasek ist derzeit noch sehr durchwachsen. Singapore Airlines ist ein Beteiligungsschwergewicht. Die Begrenzung des Flugverkehrs widerspricht der Staatsdoktrin. Vor zwei Jahren rettete der Staatsfonds Keppel Corporation, deren Kerngeschäft die Ölexploration ist. Olam International, ein Rohstoffhändler, musste ebenfalls nach Managementfehlern übernommen werden. Der Konzern steht wegen seines Engagements für Palmöl-Plantagen in der Kritik, für die Regenwälder gerodet werden.

Temasek hat in den letzten Jahren seine Beteiligungen in China massiv ausgebaut, mit Alibaba, ICBC und der China Construction Bank als Ankerinvestments.

Das ausdrückliche Bekenntnis zum Klimaschutz kann als Bestätigung eines Trendwechsels zu mehr Nachhaltigkeit in der südostasiatischen Metropole gewertet werden. Die operative Umsetzung der Investmententscheidungen obliegt der DBS. Dort vermisste Hieronymus bislang eine sichtbare Nachhaltigkeitsstrategie. Dies könnte sich nun ändern.

Abbildung 3: Auszug aus dem Beteiligungsportfolio der Temasek (Quelle: InvestorFactSheet)

  1. Das Wort »haben« hat hier eine besondere Relevanz. Schließlich sind die erzielten Höchstpreise für Aktien Ergebnis von getätigten Investitionen. Die firschgebackenen Aktionäre hoffen jetzt, dass sich weitere Interessenten finden, die bereit sind, noch höhere Preise zu zahlen. Im Februar 2020 trugen diese Hoffnungen bekanntermaßen nicht weit. 

  2. John Normand, Leiter der Abteilung »Cross-Asset Fundamental Strategy« bei JPMorgan in einem FT-Interview