Wochenbericht 4

Wallstreetbets

Die Zutaten: Eine polarisierte Gesellschaft, ein politisches System im Übergang, Reddit, gelangweilte junge Männer, professionelle Influencer und aggressive Handelsalgorithmen. Gemeinsam nimmt man einzelne Aktien ins Visier und lässt die Dynamik der sozialen Netze wirken. Das Ergebnis: Marktturbulenzen.

Stuttgart, 30. Januar 2021.

Der Wochenbericht: Der Wal im Haifischbecken (5. September 2020) thematisierte die im Sommer 2020 geduldeten Preismanipulationen für große US-Titel. Softbank hatte über soziale Netze eine Armee von Kleinanleger rekrutiert und über gehebelte Optionen die Marktpreise für Apple, Microsoft, Tesla, Netflix und andere Aktien in die Höhe getrieben.

Damals brüstete sich der US-Präsident für die Performance der US-Aktien­märkte. Auch wenn einige – wie Hieronymus – auf die Gemeinsamkeiten mit zurückliegenden Spekulationsblasen hinwiesen, der Zeitgeist sprach für eine Adelung dieser Praxis.

Mit den Collateralschäden lebt die USA bis heute. Die Preisentwicklung des S&P 500 wird effektiv von den Aktienbewertungen von gerade 7 Werten bestimmt.

Die zweite Spekulationswelle

Ist es Zufall, dass inmitten der zweiten Infektionswelle der Pandemie neue, hochansteckende Virusmutaten das Ruder übernehmen und gleichzeitig an den Finanzmärkten eine aggressivere und umfassendere Variante des Handels- und Preisregimes des vergangenen Sommers auftaucht?

Fakt ist: Wieder werden Kleinanleger aus aller Welt zusammengetrommelt, um größere Preisbewegungen zu katalysieren. Die Medien stellen sich auf deren Seite und berichten ausführlich. Danach soll sich eine kritische Masse gebildet haben, die, wie eine Ameisenkolonie, selbst den größten und stärksten Gegner in die Knie zwingt. David gegen Goliath.

Abbildung 1: Preisentwicklung [in %] GameStop, 3 Monate, (Quelle: TradingEconomics)

Das ist natürlich Nonsens. Wie im September 2020 wird das gegenwärtige Handelsregime von institutionellen Influencern orchestriert. Was im Sommer 2020 ein einzelner »Nasdaq-Whale« ausrichtete, übernimmt nun eine Gruppe angeheuerter Social-Media-Profis. Offenbar recht erfolgreich.

Das Setup

Die Geschichte beginnt mit der Regulierung an den US-Aktienmärkten. Institutionelle Investoren müssen jedes Quartal ihre Depotbestände öffentlich machen. Die Daten offener Short-Kontrakte sind damit frei zugänglich.

Es ist nicht schwierig, in der aufgeladenen Zeit nach der US-Wahl ein Narrativ in die Welt zu setzen, dass überparteilich Anklang findet: Wir holen uns unser Geld von den Hedge-Fonds zurück.

Die Reputation von Hedge-Funds ist überall schlecht. Es den bösen Managern dort heimzuzahlen, lässt sich in diversen Formaten sehr unterschiedlichen Zielgruppen verkaufen. Gute Voraussetzungen, ShortSeller aus dem Markt zu drängen. Also bastelt man an eine eingängige Legende: RobinHood gegen den das Wallstreet-Establishment. Wie der Zufall es will: die derzeit am stärksten wachsende US-Bank heißt RobinHood, sie umgarnt: Kleinanleger.

Gar nicht passen will allerdings, dass ausgerechnet Citadel (mehr Establishment geht gar nicht!) das Geschäftsmodell von RobinHood erst ermöglicht. Der Deal lautet: RobinHood zieht mit seinem NoFee-Modell eine neue Anleger- und Spekulatenschaft heran. Citadel zahlt RobinHood für die Übermittlung der aufgegebenen Orders, bevor diese an die Börsen weitergeleitet werden.1 Kunden der gerade überall entstehenden Umsonstbroker (in Deutschland: Trade Republik) ermöglichen es Citadel und Co, ausgefeilte Handelssystem zu betreiben, die auf erkannten Trends aufsetzen, diese verstärken und ggf. dafür sorgen, dass die jungen Daytrader rasch wieder mit Verlust ihre Positionen räumen. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder FeedBackLoops entstehen und kurzfristige Volatilität.

Die Causa Melvin Capital

In der vergangenen Woche ging die Kapitulation von Melvin Capital, einem auf Shortselling spezialisierten Hedge-Fund, durch die Tagespresse2. Melvin hatte GameStop geshortet, eine Handelskette, die in ihren Läden Computerspiele verkauft. Der Aktienkurs war von 8 $ im Januar 2020 auf 18 $ gestiegen; es gab gute Gründe, weiteren Preiserhöhungen sehr skeptisch gegenüber zu stehen.

Den Influencern gelang es, Kleinanleger aus aller Welt, die sich im Reddit-Forum r/WallstreetBets versammelt hatten3, von GameStop als Target zu überzeugen. Gemeinsam trieb man den Aktienkurs in wenigen Tagen auf 450 Dollar. Melvin wurde gezwungen, die ausgeliehenen Aktien zum Höchstpreis zurückzukaufen.4 Ausgerechnet Citadel und Point72 (beides auch HedgeFonds) halfen Melvin (selbstverständlich völlig selbstlos) mit einem Kredit über 2,75 Mrd. $ einer Liquidation zu entgehen.

Zwischenzeitlich sind alle US-Unternehmen mit signifikanten Shortpositionen Gegenstand eben dieser Attacken. Selbst in Deutschland werden solche Werte unerklärlich teurer, z.B. Lufthansa oder Hugo Boss.

Bezugsrahmen: LTCM-Kollaps

Im Jahre 1998, Alan Greenspan war gerade zum FED-Chairman bestellt worden, ging der damals größte Hedge-Fund spektakulär unter. Damals war die FED faktisch gezwungen, das Derivate-Depot zu übernehmen und für alle Risiken gerade zu stehen5. Nur so konnte der Kollaps des Finanzsystems vermieden werden.

Melvin Capital hatte zum Jahreswechsel ein dreimal größeres Portfolio als LTCM im Jahr 1998.

Was, wenn jetzt weitere Hedge-Fonds in Schwierigkeiten geraten, die nicht durch Konkurrenten gestützt werden?

Kollateralschäden bei Banken

Alle Banken tragen die Ausführungsrisiken für angenommene Handelsaufträge. Die Positioen erscheinen in Echtzeit in den Kundendepots. Die Abrechnung dauert aber immer noch zwei Tage. Bis dahin muss eine Bank entsprechende Sicherheitsleistungen vorhalten. Üblicherweise halten sich Kauf- und Verkaufsaufträge die Waage, die Nettohandelsposition ist deutlich geringer, als das absolute Handelsvolumen. Wenn sich nun aber Millionen Kleinanleger zum Kauf über eine einzige Bank verabreden, kann dies für die Bank den Bankrott bedeuten.6

Es war die große Meldung des vergangenen Freitags: In einer Nacht und Nebel-Aktion konnte sich RobonHood einen Kredit über eine Milliarde Dollar sichern. Damit konnte eine Pleite abgewendet werden, die die Finanzmärkte sehr hart getroffen hätte.7

Angriff auf die Börsenaufsicht

Viele stellen die Frage, ob derartiges Verhalten legal ist. Tatsächlich gibt es seit 1934 ein striktes Verbot. Der Securities Exchange Act gibt der US-Börsenaufsicht weitgehenden Rechte zur Eindämmung von Investor-Pools:

The act likewise makes it unlawful to effect either alone or in concert with others a series of transactions in any registered security, creating actual or apparent active trading in the security or raising or depressing the price thereof, for the purpose of inducing the purchase or sale of the security by others. This provision should perform the wholesome service of outlawing pool operations.

Nun – die Trump-Administration schritt nicht gegen die Preismanipulationen von Softbank ein, auch nicht als sich das Unternehmen öffentlich dazu bekannte. Jetzt hat die Biden-Administration den Schwarzen Peter.

In den US-Medien tobt ein Kampf für ein Recht auf freien Zugang auch zu Aktien, wie GameStop, wo Käufe eine garantierte Verlustposition und Leerverkäufe unmöglich sind. Abgeordnete aus dem Trump-Lager vereinen sich mit, für amerikanische Verhältnisse, linken Politikern. Gemeinsam fordern sie die Banken auf, immer und jederzeit einen Handel auch mit extrem volatilen Titeln zu garantieren.

Die Forderung für das Recht auf einen Platz am Rouletttisch in der größten Spielhalle der Welt ist aus europäischer Sicht grotesk. So ähnlich muss es sich auch 1929 angefühlt haben, wenn man bereits im Taxi mit heißen Aktientips versorgt wurde oder wenn der Hausherr mit dem Dienstmädchen anstatt über die Besorgungen für den Folgetag zu reden, Aktienhandelsstrategien austauschte.

Indikator für Übertreibung

Es kommt immer wieder vor, dass sich Marktteilnehmer absprechen, um bestimmte Marktsituationen herbei zu führen. Preisbestimmend wird dieses Verhalten allerdings nur selten. Es müssen einfach mehrere kritische Faktoren zusammenkommen, um einen Herdentrieb auszulösen.

Rückblickend erkennt man kurz vor dem Ende der Dot.Com-Ära ähnliches. Damals traten selbsternannte Gurus im deutschen Programm von Bloomberg auf und priesen aggressive Optionsscheinstrategien an. Elektrisierte junge Männer tauschten heiße Aktientips in Börsenforen aus (und wurden auch damals bereits von professionellen Einheizern in wilde, verlustbringende Positionen getrieben). Basiswerte waren die damaligen Highflyer, völlig überbewertet und mit nicht nachhaltigen Geschäftsmodellen.

Vor dem Lehman-Crash waren Preisabsprachen bei ABS und CDO’s üblich und weit verbreitet. 2006 diente das Bloomberg-Terminal als Verstärker, das bereits private (nicht regulierte) Diskussionsgruppen ermöglichte.

Man könnte auf die Idee kommen, eine Notwendigkeit für offensichtliche Marktpreismanipulationen mit dem Reifegrad einer Spekulationsblase in Relation zu setzen.

Abbildung 2: Vergleich der Bewertungen von Dot.Com-Legenden mit heutigen Highflighern

Gemäß Abb. 2 überschreiten die Bewertungen hoch kapitalisierter Unternehmen über 50 Mrd. $ Marktkapitalisierung überwiegend die ihrer Vergleichswerte aus dem Jahr 2000 deutlich. Bemerkenswert: Tesla ist in dieser Aufstellung der Wert mit der geringsten Übertreibung.

Gibt es Gewinner?

Klare Antwort: Ja. Langjährige Aktionäre der betroffenen Unternehmen, die nun zufällig ein profitables Exit realisieren und natürlich Hedge-Fonds und deren Algorithmen, die hinter der Orchestrierung des Herdentriebs zu vermuten sind. Vermutlich gehören auch wenige Privatanlegern zu den Profiteuren. Bei einer Tagesschwankung von 70 %, wie am Freitag, überwiegen aber insbesondere bei Letzteren die Verlierer.

Systemische Gefahren?

Jede unerwartete Börsenturbulenz wird irgendwo unter dem Aspekt eines drohenden Zusammenbruchs der Finanzmärkte betrachtet. Angesichts der extremen Preisausschläge stellt sich dennoch die Frage, ob wir gerade einer nachhaltigen Veränderung des Marktumfelds beiwohnen oder ob dies eine zufällige und nicht nachhaltige Episode darstellt.
Hieronymus wundert nicht, dass der jetzt beobachtete Volatitätsausbruch gerade dann stattfindet, wo doch wesentliche Marktgefahren abgebaut wurden: Das politische System in den USA stabilisiert sich wieder, es gibt eine fundierte Pandemiebekämpfung, die Geldpolitik ist berechenbar, viele Unternehmen kommen besser mit den Pandemiefolgen klar, als erwartet. Man kann sich eine gewisse Destabilisierung leisten.
Angenehmer Nebeneffekt: Es ist der erste Test für die Kapitalmarktpolitik der Biden-Administration. Im Grunde testen die Hedge-Fonds gerade die US-Börsenaufsicht. Man versucht herauszufinden, wie ernst es den frisch ernannten Funktionären mit einer effektiven Marktregulierung ist.

Spannend ist die Diskussion um die Demokratisierung der Kapitalmärkte. In den USA preisen die Medien eine neue Aktienkultur. Jeder hat die Möglichkeit, sich kostenlos an den Kapitalmärkten zu tummeln. Wer kein Geld für eine ganze Aktie übrig hat, kauft halt Bruchteile. Kaufen, Verkaufen und Halten ist umsonst. Die Marktkräfte generieren Reichtum für alle, lautet das Narrativ.

Das kann nicht lange gut gehen.

Grüne Evolution

Interessant ist, welche Unternehmen nicht auf der Kaufliste der Reddit-Ameisenkolonie sind. Exxon beispielsweise. Bis 2020 hielt sich der Handelspreis über 70 $. Als die Ölnachfrage pandemiebeding im Frühjahr 2020 abnahm, halbierte sich der Marktpreis für die Aktien. Seitdem wird die Aktie zwischen 30 und 50 $ gehandelt.

Kurz nach der US-Wahl trat Engine No. 1 auf den Plan, eine Gesellschaft die im Auftrag ihrer Kunden Geld anlegt,. Konkret: Aktien von Exxon kauft. Der aktuelle Bestand: 40 Mio. $. Das ist angesichts einer Marktkapitalisierung des Erdölriesen von 190 Milliarden Dollar nicht wirklich viel.

Engine No. 1 hat aber gewichtige Freunde, z.B. California State Teachers’ Retirement System (CalSTRS), eine Pensionskasse. Engine No.1 macht Druck, schmiedet Allianzen mit den Großaktionären, die großen ETF-Unternehmen Vanguard, State Street und natürlich Blackrock. Erstmals gibt es einen koordinierten Versuch der Aktionärsschaft, das Unternehmen zu einen strikten Nachhaltigkeitskurs zu zwingen.

Das Management ist alarmiert. Am 27. Januar, eine Woche vor der Vorlage der Q4-Quartalszahlen, verkündete man weitere Investitionskürzungen im Upstream-Geschäft, also bei Exploration und Förderung. Kurz vorher hatte Engine No. 1 angekündigt, vier Mitglieder für den Aufsichtsrat vorzuschlagen. Natürlich mit dem Seitenhieb, dass man genügend stimmberechtigte Aktionäre auf seiner Seite wisse.

Die Angst vor einem grün angehauchten Aufsichtsrat verleiht dem Bestandspersonal offenbar Flügel.

Der Ansatz von Engine No. 1 ist nicht unumstritten. Schließlich will man dort den Konzernumbau aus Investorensicht begleiten. Es sind nur inkrementelle Schritte geplant. Man entzieht den Konzern auch nicht das Geld, wie es die Disinvestment Kampagne verlangt.

Fakt ist: Der Entzug von Anlegerkapital durch institutionelle Marktteilnehmer (Pensionskassen, Staatsfonds) hat zwar die Marktkapitalisierung der Ölkonzerne reduziert. Für eine nachhaltige Änderung der Unternehmenspolitik hat das Verhalten nicht gesorgt. Dafür ist das fossile Geschäftsmodell einfach zu profitabel.

Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn wenig radikale, umweltbewußte Zeitgenossen einen zweiten Weg versuchen, den gesellschaftlichen Umbau zu einer Zero-Carbon-Society zu fördern. Fakt ist: Vertreter der kohlenstoffintensien Branchen weht ein immer schärferer Wind immer direkter ins Gesicht. Der Druck zu einem wirklich nachhaltigen Umbau wird immer stärker, auch bei fossilen Supertankern, wie Exxon Mobil.

  1. Quelle: “… including from Citadel Securities, the trading company owned by Ken Griffin, which pays Robinhood for orders”, FT 

  2. Eine unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem bunten Treiben an den Finanzmärkten liefert Trevor Noah in Daily Show

  3. Am 28. Januar hatte das Forum 4,3 Millionen Nutzer, mehr als doppelt so viele, wie zum Jahreswechsel 

  4. Wer eine Short-Position aufmachen will, muss sich Aktien leihen. Der Ausleihende kann jederzeit die Rückgabe der geliehenen Stücke verlangen und seinerseits die Aktien zum Marktpreis veräußern. Wer will es den Langzeitinvestoren verdenken, dass sie nach einem derartigen Preisanstieg einfach mal Kasse machen? Allein dieser Prozess treibt den Aktienpreis eines geshorteten Assets finale nochmals in die Höhe. 

  5. Tatsächlich übernahmen US-Geschäftsbanken die notleidenden Derivate. Die FED sorgte für die notwendige Liquidität. Kleine Anekdote am Rande: Bear Stearns weigerte sich, an der LTCM-Rettungsaktion teilzunehmen. Als die Bank 2008 selbst in Schwierigkeiten geriet, war niemand bereit, Risiken des Kreditderivateportfolios zu übernehmen um die Bank zu retten. Das wird heute als späte Returekutsche für das Verhalten 1998 interpretiert. 

  6. Das US-ClearingHouse DTCC veröffentlichte aktuelle Marginforderungen. Danach mussten die Banken in der vergangenen Woche statt der üblichen 26 Mrd $ zwischenzeitlich 33.5 Mrd. $ hinterlegen, um das Clearing zu gewährleisten. [Quelle: FT

  7. Citadel scheint keine direkte Beteiligung an RobinHood zu besitzen. Ansonsten wäre der Skandal perfekt: Citadel zieht die Fäden für große Preisverwerfungen and den US-Börsen und verdient sich bei den anschließenden Rettungsaktionen eine goldene Nase.