Wochenbericht

Wie weit trägt die Hoffnung auf weitere Zinssenkungen?

(Stuttgart, 8.9.) Das war fast Filmreif: Die Industrieproduktion in Deutschland bricht im Jahresvergleich um 4,2% ein. Der korrespondierende ISM-Manufacturing schaltet erstmals seit 2012 auf Kontraktion um. Und an den Aktienmärkten steigen die Marktpreise auf breiter Front. Gleichzeitig deutet die Volatilität »hohe Entspanntheit« der Marktteilnehmer an: Je trüber die Realität, desto besser stehen die Aussichten auf deutliche Zinssenkungen, in Europa, in den USA.

Jaw Powell, der Vorsitzende der US-Notenbank, besuchte die Notenbank der Schweiz. Er sprach bei seinem Vortrag in Zürich über ein neues Muster: Weltweit geht die Industrie­produktion zurück. Gleichzeitig boomen Dienstleistungen. Der Grund: Der Konjunkturzyklus ist sehr weit fortgeschritten. Die US-Handelssanktionen tun ihr übriges. Dienstleistungen sind einstweilen nicht vom Abschwung betroffen. Damit dies so bleibt, schalten die großen Notenbanken die Geldpolitik auf »expansiv« um.

Rezessionsmuster

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt allerdings: Eine typische Rezession beginnt für alle sichtbar als singuläre Entwicklung in einem Sektor. Nach und nach kippen weitere Sektoren ab. Gleichzeitig reagieren die Preise für Anleihen: Die Zinsstrukturkurve flacht ab. Schließlich springt der Funke in den Mainstream über und plötzlich ist ein wirtschaftlicher Abschwung Realität.

Das Beispiel Indien

Indien zeigt der Welt gerade, wie schnell das geht. Noch vor zwei Jahren feierte man das hohe Fest der Konjunktur. Das letzte Dorf wurde medienwirksam elektrifiziert, ein einheitliches Umsatzsteuersystem versprach einen deutlichen Bürokratieabbau und die Schatten­wirtschaft wurde durch eine radikale Geldreform eliminiert. Dann entpuppte sich gerade der Versuch, die Schattenwirtschaft auszuschalten als fatal. Plötzlich fehlte das Schwarzgeld. Schattenbanken, die wegen der Ineffizenz der staatlich kontrollierten Banken den Löwen­anteil der Unternehmensfinanzierung übernahmen, trockneten förmlich aus. Im Wahlkampf um die Wiederwahl des Premierministers flossen großzügige staatliche Subventionen. Eine kurzfristige Sonderkonjunktur entfaltete sich.

Nach den Wahlen brach der Automobilsektor zusammen. Die Schattenbanken hatten aus purer Not die Zinssätze für Autokredite angehoben. Die Mittelschicht schiebt den Austausch alter Fahrzeuge zunächst auf. Die lokalen Automobilhersteller berichten von Absatz­ein­brüchen von 30 bis 40 Prozent und entlassen Mitarbeiter. Die Krise springt gerade auf den Immobiliensektor über. Das Wirtschaftswachstum hat sich (gemäß der offiziellen Statistik) seit 2018 fast halbiert.1,2

In ihrer Not plünderte die indische Regierung nun die Reserven der indischen Notenbank3. Mit dem Geld sollen staatliche Infrastrukturprojekte finanziert werden. Die Maßnahme macht das Land aber verwundbar. Falls ausländische Investoren ihr Geld abziehen oder (schlimmer) vermögende Inder ihr Geld ins Ausland transferieren, ist die indische Rupie schutzlos.

Die indische Volkswirtschaft ist wenig mit dem Welthandel verwoben. Deshalb schauen Ökonomen dem Schauspiel interessiert zu. Es ist unwahrscheinlich, dass die Rezession auf diesem Wege auf die globale Ökonomie überspringt. Ein Lehrbuchbeispiel über die Dynamik rezessiver Prozesse ist es allemal.

Der Herbst steht im Zeichen des Keynesianismus

Die großen Aktienmärkte notieren unisono knapp unterhalb der oberen Begrenzung der Trading-Ranges und ignorieren damit die Möglichkeiten einer rezessiven Entwicklung. Im Herbst müssen Notenbanken und Regierungen liefern – die einen billiges Spielgeld, die anderen schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme. Die Wette gilt.

Die Woche an den Finanzmärkten

Diverse Notenbanken lieferten Updates ihrer Geldpolitik.

  • Die Peoples Bank of China (PBoC) senkt zum dritten Mal in diesem Jahr die Reserve­an­for­derungen für Banken. Das Ziel: Chinesische Banken sollen Kredite im Volumen von 900 Mrd. Yuan (126,5 Mrd. $) vergeben ohne zusätzliches Eigenkapital aufnehmen zu müssen. Damit will man die negativen Auswirkungen des sino-amerikanischen Handelskriegs kompensieren.

  • Die schwedische Notenbank (Riksbank) hat den Leitzins auf –0,25 Prozent belassen. Aufhorchen ließ die Forward-Guide: Die Riksbank bereitet sich auf Zinserhöhungen vor. Im Frühjahr 2020 soll die Phase mit negativen Marktzinsen abgeschlossen sein. Die Krone wertete daraufhin deutlich gegenüber dem Euro auf. Die Riskbank könnte damit der norwegischen Notenbank folgen, die gegen den Trend bereits im Frühsommer die Leitzinsen erhöht hatte.

  • Auch die kanadische Notenbank lies den Leitzins unverändert bei 1,75 %. Das war gänzlich unerwartet. Nachdem die FED ihre Leitzinsen gesenkt hatte, waren alle von einer Leitzins­senkung ausgegangen, allein um den Aufwertungsdruck von kanadischen Dollar zu nehmen. Statt dessen betont die Notenbank, dass sich die Konjunktur überraschend gut entwickelt hat und es keinen Anlass für Leitzinssenkungen gibt.

  • Die australische Notenbank tagte ebenfalls. Auch dort: keine Änderung der Geldpolitik. Der Leitzins beträgt ein Prozent. Die Notenbank deutet an, dass die Talsohle der wirtschaftlichen Abkühlung erreicht sein könnte. Auch der australische Dollar wertete anschließend deutlich auf.

  • Jaw Powell war in Zürich. Auf einer Veranstaltung der Kantonalbank erklärte er die Geld­politik der FED. In Japan und Europa beobachtet er negative Effekte zu niedriger Markt­zinsen. Dies will er unbedingt vermeiden. Andererseits erkennt er an, dass die US-Wirtschaft kein Leitzinsniveau von 2,5 % verträgt. Die FED ist auf der Suche nach einem optimalen Marktzins. Die Finanzmärkte bepreisen die Wahrscheinlichkeit für zwei Zinsschritte in den USA noch dieses Jahr mit 80 Prozent.

  1. India’s households tighten their belts as economic gloom deepens, Financial Times, 5.9.2019 

  2. Meagre fare – India’s government is scrambling to revive the economy, Economist, 29.8.2010 

  3. Ravaged Bank of India? Narendra Modi’s government dips into central-bank reserves, Economist, 29.8.2019