Wochenbericht 42

Die Klippen der Geldpolitik

Über die Geldpolitik bestimmt eine Notenbank das Zinsniveau für kurzfristige Kredite. Die Investitionsneigung der Unternehmen definiert die Zinsen bei langfristigen Krediten. Das ist klassisches Lehrbuchwissen. In den USA kämpft die FED gerade um die Kontrolle über die Zinsen am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve.

(Stuttgart, 20.10.) Mario Draghi ist auf Abschiedstour. Am 24. Oktober endet sein Mandat als EZB-Vorsitzender. In New York verbreitete er seine wohl bekannte Botschaft: The financial stability environment remains challenging, as the global economic outlook has deteriorated. Dieses Statement hätte bereits sein Vorgänger zur Amtsübergabe formulieren können. Was also ist in den vergangenen acht Jahren geschehen?

Allen Unkenrufen zum Trotz, ist die Eurozone weiterhin ein Epizentrum im globalen Finanzsystem. Mit dem Rückzug der USA auf ihr Kerngebiet, den Schwierigkeiten Chinas, den Renminbi global zu verankern und dem zunehmenden Bedeutungsverlust des Sterlings, ist seine Bedeutung zuletzt sogar gewachsen.

Der Euro ist unter Draghi erwachsen geworden, hat im Rahmen der Griechenlandkrise seine Feuerprobe bestanden. Heute dominiert das Triumvirat Euro–US-Dollar–Yen das internationale Handelsgeschehen. Erstaunlich: In dem Maße, in dem die Politik protektionistische Gräben aufhäufelt, harmonisiert sich die Geldpolitik und sorgt so für weiterhin friktionslose globale Kapitalmärkte. Der Prozess hat leider auch eine Schattenseite: Fehlentwicklungen pflanzen sich in allen drei Währungsräumen fort und wirken global.

Quantitative Easing

Der von Ben Bernanke geprägte Begriff beschreibt den systematischen Ankauf von Staatsanleihen durch eine Notenbank. Damit erlangt eine Notenbank Kontrolle über das »lange Ende der Zinsstrukturkurve«, also den Zinssätzen für Kredite mit langen Laufzeiten. Die Idee war, über die Geldpolitik die Finanzierungskosten für Unternehmen zu senken und so die Konjunktur anzukurbeln.

Quantitative Easing (QE) wurde erstmals Anfang des Jahrtausends in Japan ausprobiert. Der Staat war an die Grenzen der Konjunkturprogramme gestoßen. Sämtliche Autobahnen waren gebaut, alle Dörfer instand gesetzt und die Staatsverschuldung überborden. Nun sollten die Unternehmen trotz hoher Barbestände zu Investitionen überredet werden. QE funktioniert in Japan nicht, weder in 2004 noch 2019.

Nach der Finanzkrise führte Bernanke das Instrument in den USA ein, 2015 begann Draghi in Europa systematisch Staatsanleihen mit langen Laufzeiten aufzukaufen. Nach der herrschenden Lehrmeinung, hat diese Geldpolitik in den USA maßgeblich zur Überwindung der Folgen der Finanzkrise beigetragen. Nun tritt QE dort in eine neue Phase ein: Es dient zur Durchsetzung des Leitzinsniveaus am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve, also für Kredite mit maximal 12 Monaten Laufzeit.

QE als Lösung für alles

Bereits vor einer Woche initiierte die FED ein Programm, Staatsanleihen mit Restlaufzeiten von wenigen Wochen bis zu zwölf Monaten (Treasury Bills) aufzukaufen. Das Volumen: 60 Milliarden US-Dollar pro Monat.

Die Vorgeschichte: Völlig unerwartet stiegen die Zinssätze für Übernachtausleihungen im September über 10 Prozent. Die Ursache für den Zinsanstieg war ein Ungleichgewicht zwischen Cash und T-Bills bei Geschäftsbanken. Viele Banken standen vor der Aufgabe, genug Cash für Steuerzahlungen ihrer Kunden aufzutreiben. Deren Geschäftskonten wiesen zwar entsprechende Guthaben auf. Die Banken hatten anstatt Cash jedoch US-Staatsanleihen gebunkert. Nun mussten alle T-Bills gegen Cash (und Zinsen) tauschen (siehe Wochenbericht 38).

Als die FED in einer Nacht- und Nebelaktion Kurzfristtender bereitstellte, absorbierten die Banken bis zu 75 Mrd. USD pro Tag. Bis Mai 2020 stellt die FED monatlich 60 Mrd. USD zur Verfügung. Sie erwirbt damit kurzlaufende US-Staatsanleihen (T-Bills). Problem erkannt – Problem gelöst, sollte man meinen.

Doch – der Teufel steckt im Detail. Anders als bei den »Spontan-Tendern« im September werden die regelmäßigen Anleihehaufkäufe im Rahmen von Auktionen abgewickelt, an denen alle Besitzer von US-Staatsanleihen mit weniger als 12 Monaten Restlaufzeit teilnehmen können. Die FED gibt das anzudienende Volumen vor und teilt die Ausgabe von Cash beginnend mit den niedrigsten geforderten Anleihepreisen zu. Der in den Auktionen anzusetzende Zins kann nicht signifikant über dem offiziellen Leitzins liegen. Die FED muss allein aus Glaubwürdigkeitsgründen eingereichte Anleihen mit höheren Verkaufspreisen abweisen.

Die größten Bestände von T-Bills halten Geldmarktfonds. State Street Global Advisors, eine US Fondsgesellschaft, verwaltet beispielsweise Geldmarktfonds im Gesamtvolumen von 350 Milliarden Dollar. Davon sind 22 Milliarden in T-Bills angelegt. In der Branche gelten T-Bills als attraktive Investments. Viele Alternativen weisen negative Renditen auf. Ein vorzeitiger Verkauf der Anleihen kann sich also negativ auf die Performance des Fonds auswirken.

So ist nachvollziehbar, dass die Fondsmanager der FED die kalte Schulter zeigen. Aus ihrer Sicht ist die Sache einfach: Angesichts mangelnder Alternativen zu T-Bills können die Bestände nur veräußert werden, wenn die eingeplanten Erträge vorab vollständig eingebucht werden können. Sie setzen in ihren Verkaufsofferten den Preis entsprechend hoch. Sollte eine Zuteilung erfolgen, kann man das bezogene Cash für die Restlaufzeit der angedienten Anleihen liegen lassen.

Sollte dieses Beispiel Schule machen, hätte der Markt am kurzen Ende deutlich höhere Zinssätze durchgesetzt. Damit steht das Thema »inverse Zinsstrukturkurve« wieder auf der Agenda. Diesmal ist es jedoch die Interventionspolitik der FED selbst, die diese Abnormalität triggert. Interventionen sind wiederum notwendig, weil es am kurzen Ende ein chronisches Liquiditätsproblem gibt. Das ist – siehe Wochenbericht 38 – Folge der stark gestiegenen US-Staatsverschuldung. Zugespitzt: Die US-Staatsverschuldung definiert die untere Grenze des Leitzinses in den USA – nicht die FED.

Diese Entwicklung ist Wasser auf die Mühlen von Verfechtern des Monetarismus, die hohen Staatsausgaben stets kritisch gegenüber standen, aufgrund der scheinbar nicht mehr existenten Inflation zuletzt sehr in die Defensive geraten waren.

Die Woche an den Finanzmärkten

  • Cannabalis in Kanada. Seit einem Jahr darf THC-haltiges Cannabis ganz legal verkauft werden. Das Ziel war es, den Schwarzmarkt auszutrocknen, dem Staat, wie bei Tabak und Alkohol, eine substanzielle Steuerquelle zu erschließen. Die Legalisierung wurde auch an den Finanzmärkten gefeiert. Es gibt diverse Cannabis-ETF’s, die vor einem Jahr in keinem Depot eines gemeinen Spekulanten fehlen durften. Parallel zum Niedergang der Trudeau-Regierung, die an diesem Wochenende möglicherweise bereits in die Geschichte eingeht, brachen auch die Preise für Aktien der Marihuana-Industrie ein: Seit der Eröffnung erster offizieller Verkaufsstellen ist die Marktkapitalisierung der Protagonisten durchschnittlich um 66 Prozent zurückgekommen. Das liegt wesentlich an dem weiterhin dominanten Schwarzmarkt: die lizenzierten Abgabestellen konnten nur ein Drittel des Marktvolumens an sich ziehen. (Quelle: Economist)

  • Verbraucherpreise in Japan. Im September sank die Inflation auf 0,2 Prozent, das ist ein Zweieinhalb-Jahrestief. Selbst die um volatile Komponenten (Energie, Obst) korrigierte Inflation beträgt nur noch 0,5 Prozent. Der Leitzins beträgt bereits -0,1 %, die Bank of Japan kauft monatlich Aktien und Anleihen auf, all dies zeigt keine Wirkung.

  • Korea. Der IMF hat die Wachstumsaussichten für 2019 von 2,6 auf 2,0 Prozent gesenkt. Die Exporte fallen (wie in Deutschland) seit 10 Monaten, Samsung das größte Unternehmen des Landes, warnte vor einem Gewinnrückgang um 56 Prozent im dritten Quartal. Die Bank of Korea senkte de Leitzins auf 1,25 %, das ist ein historisch niedriger Zins.

  • Einzelhandelsumsätze USA. Erwartet wurde für September ein saisonal bedingter Anstieg der Einzelhandelsumsätze um 0,3 Prozent (gegenüber August). Statt dessen registrierte das Wirtschaftsministerium einen Rückgang um 0,3 Prozent. Besonders betroffen sind Department Stores, also NonFood-Läden (Haushaltsgegenstände, Geschenke etc), die auf Jahressicht Umsatzrückgänge um 6,1 Prozent auswiesen. Baumärkte verzeichneten auf Jahressicht Umsatzeinbußen um ein Prozent. Auf Jahressicht sind die Einzelhandelsumsätze dagegen um __ 4 % gestiegen__. Hier sind Dienstleistungen und Online-Händler einbezogen.

  • Industrieproduktion USA. Das aus Deutschland bekannte Muster manifestiert sich nun auch in den USA: _Die Industrieproduktion sinkt. Im Jahresvergleich sank die Industrieproduktion um 0,1 Prozent, dies ist der erste Rückgang seit 2016.

  • Wirtschaftswachstum China. Die chinesische Statistikbehörde veröffentlichte die jüngsten Quartalsdaten. Danach wuchs die Wirtschaft im Vergleich zum Q3 2018 um 6,0 Prozent. Für 2020 erwartet die Behörde weiter zurückgehende Waschstumsraten. Die Inflation beträgt 3 %. Statistische Daten aus China sind per se wenig aussagekräftig, steht doch die Kommunikation der Erreichung der Planziele an erster Stelle. Anstatt transparenter, wird die chinesische Volkswirtschaft aktuell wieder opaker. Der Grund: Unternehmen reagieren auf die Handelskonflikte und diversifizieren ihre Produktion. Chinesische Produktionsstandorte werden aufgegeben und durch Fabriken in Thailand, Vietnam, Laos, Indien, etc. ersetzt. In China verbleiben staatsnahe Konzerne und Unternehmen, die den chinesischen Binnenmarkt adressieren. Nachprüfbare und unabhängig erhobene Daten sind kaum noch vorhanden; das Mißtrauen gegenüber offiziellen Statistiken wird größer.

  • Verbraucherpreise Eurozone. Eurostat veröffentlichte die Inflationsdaten September: 0,8 % (yoy), bereinigt um volatile Komponenten: 1 %. Noch im Juli 2018 betrug die Inflationsrate 2,2 %. Spanien und Italien kämpfen bereits wieder mit einer Deflation. Preisauftrieb dort: 0,2 %.

  • Wirecard. Im April 2019 bezichtigte die FT dem damaligen DAX-Neuling der Bilanzfälschung. Das vereinte bundesdeutsche Establishment wurde zur Verteidigungsschlacht eingebunden, inklusive der ansonsten unabhängig berichtenden Leitmedien FAZ und Wirtschaftswoche. Die Redakteure der FT waren in den Augen der deutschen Finanzindustrie von Hedge-Fonds in feindlicher Absicht angeheuerte Strohmänner, denen die FT auf den Leim gegangen war. Im Oktober 2019 wiederholt die FT die Vorwürfe aus dem Frühjahr und untermauert diese mit weiteren Dokumenten. Die Anleger können es wieder nicht glauben. Diesmal gibt der Aktienpreis nur zögerlich nach. Im Wochenverlauf sackte der Aktienpreis dennoch von 150 auf 110 Euro. Im Oktober 2018 notierte der Wert bei 200 Euro.
    Am Freitag gab das Unternehmen bekannt, ein Aktienrückkaufprogramm zu beginnen. Dies konnte den Verkaufsdruck nicht eindämmen, im Tagesverlauf gab der Titel um sieben Prozent nach.