Wochenbericht 37

Bottom Fishing

Die Autokraten der Welt treffen sich im Schatten monumentaler Zeitzeugen vergangener autokratischer Imperien. Ihre Botschaft: Wir sind alternativlos! Fast zeitgleich versammelt sich der andere Teil der Welt beim Begräbnis der Queen.
An den Finanzmärkten geht das Gespenst einer globalen Rezession um. Ist es der schlichte Pawlowsche Reflex, dass vielerorts ob niedriger Assetpreise geradezu Goldgräberstimmung herrscht?

Stuttgart, 17. September 2022.

Die Kulisse des »Familientreffens der Autokraten« im usbekistanischen Samarkand hätte nicht treffender gewählt werden können. Samarkand ist eine Stadt der Seidenstraße. Bereits in vorchristlicher Zeit verewigten die Eliten ihre Handelserfolge in imposanten Bauten. Bis ins 20. Jahrhundert war die Stadt im Wechsel u.a. mongolischen, chinesischen, persischen und russischen Einflüssen ausgesetzt. Monumentale islamische Bauwerke prägen das Stadtbild. Die Jahre vergehen, Herrscher kommen und gehen, zurück bleiben imposante klerikale Bauwerke als stumme Zeitzeugen des Machtstrebens jeden Einzelnen.

In dieser Umgebung rammen China, Indien, Pakistan, der Iran, Russland und die Türkei die Fundamente des Kalten Kriegs des 21. Jahrhunderts in die Weltgeschichte. Die Autokraten eint (neben dem eigenen Machtstreben) die Ablehnung westlicher Werte. Die Gipfelteilnehmer dürften sich beim Anblick der monumentalen Moscheen und imposanten Kuppeln direkt vor den Fenstern des Kongressgebäudes in ihrer Haltung bestätigt fühlen.

Bis auf die Türkei sind die Hauptakteure des Bündnisses Atommächte. Die Weltöffentlichkeit schaut auf kurzfristig wirkende Ergebnisse, beispielsweise im Ukrainekrieg. Diese Erwartungen bedient man mit inszenierten Auftritten der Protagonisten. Das Bündnis trägt aber nicht umsonst den Titel »Shanghai Corporation Organisation« (SCO). Sie hat — für China und auch für Russland — strategische Relevanz.

Der bilaterale Handel der Mitglieder der SCO wird in Yuan oder Rubel abgerechnet. Gleiches gilt für die umgeleiteten Öl- und Gaslieferungen Russlands an China und Indien. China vermarktet ferner offensiv seinen digitalen Yuan, die erste reale Kryptowährung der Welt. Staatliche türkische Banken sind in das russische Zahlungssystem MIR integriert, das als Konkurrenz zu SWIFT grenzüberschreitende Abrechnungen über Rubel-Konten erlaubt. Damit werden zum einen Umsätze russischer Touristen verbucht. Zum anderen gelingt es bequem, die Abschottung des russischen Kapitalmarkts zu umgehen.

Auf der Schauveranstaltung der SCO kritisieren die Staatschefs Chinas und Indiens nun also öffentlich den russischen Krieg in der Ukraine. Das stereotype Statement Russlands: Wir sind mit der Situation ebenfalls nicht zufrieden. Der Feind lehnt aber Verhandlungen ab. Wir versprechen, den Konflikt schnellstmöglich zu beenden.

Das lässt das Blut in den Adern gefrieren. Wenn keine Verhandlungen angestrebt werden und Rückzug keine Option ist, was bleibt als Metabotschaft, als die zweifach wiederholte Ankündigung eines massiven Militärschlags? Wer erinnert sich nicht an die massiven Militärschläge, die Japan 1945 zur Kapitulation zwangen?

Aus der Perspektive der Kapitalanlage definiert dies das Black-Swan-Szenario.

China: Der angeschlagene Riese

»Experten« werden nicht müde, die jüngsten Erfolge der Ukraine in einen direkten Zusammenhang mit einer strukturellen Schwäche Russlands zu stellen. Tatsächlich muss man nicht lange suchen, um deutliche Hinweise für eine Aushöhlung der russischen Nomenklatura zu erkennen. Das Putin-Regime ist international isoliert, selbst beim »Familientreffen der Autokraten«. Die FT zitiert Alexei Venediktov, ein bekannter oppositioneller Journalist, mit der Prognose, dass der russischen Armee bis zum Jahreswechsel der Nachschub an Menschenmaterial und Munition ausgehen werde. Da mag viel Wunschdenken im Spiel sein. Fakt ist aber: Die geopolitische Bedeutung Russlands wird gerade neu vermessen.

China, Indien und Pakistan stehen bereit, die Schwäche Russlands für den Abschluß langfristiger Energielieferverträge zu Sonderkonditionen auszunutzen. Von Außen betrachtet, wird Russland in Samarkand auf die Rolle als einfacher Rohstofflieferant zurechtgestutzt, der über Atomwaffen verfügt.

Insbesondere China ist dringender denn je auf dieses strukturell geschwächte Russland angewiesen. Das zeigt sich an volkswirtschaftlichen Größen, wie dem Konsumverhalten im Umfeld der immer noch umfangreichen Lockdowns (Online-Umsätze sind auf das Vor-Corona-Niveau gefallen), der ausbleibenden Wirkung von Zinssenkungen (keine Bereitschaft, Investitionen vorzuziehen oder Immobilien zu erwerben), der Preisentwicklung von Basismetallen (China ist größter Abnehmer, industrielle Nachfrage sinkt) oder dem Primärenergieverbrauch (stagniert unterhalb des Niveaus von 2020). Das zeigt sich aber auch am Preisverlauf von Aktien.

Abbildung 1: Preisentwicklung des HSI (Hongkong)

Besonders ausgeprägt ist die Schwäche Chinas am Off-Shore-Handelsplatz Hongkong. Hier kumulieren die »Probleme« Chinas.

  • Im August waren die Notierungen von 30 in Hongkong notierten Immobilienaktien vom Handel ausgesetzt. Diese Unternehmen stehen für ein Zehntel des gesamten Immobilienmarktes Chinas.
  • Chinesische Immobilienentwickler werden durchschnittlich mit einem KGV von 0,5 bewertet. Das entspricht einem “C”-Rating (Totalausfall wahrscheinlich).
  • Die unvorhersehbaren und unberechenbaren großflächigen Lock-Down’s schwächen die Finanzstruktur chinesischer Unternehmen nachhaltig.
  • Der Westen reduziert seine Abhängigkeit von chinesischen Zulieferern. Seit 2019 fließt permanent Kapital ab.
Abbildung 2: Entwicklung der chinesischen Außenhandelsbilanz.

Selbst die zuerst erfolgreiche Coronapolitik änderte nichts am Trend,

Abbildung 3: Nachfrageeinbruch am Immobilienmarkt ab 2021; Zeitgleich: abrupter Einbruch des Verbrauchervertrauens.(Quelle: Economist)

Das chinesische Statistikamt weist etwa zum Jahreswechsel 2021/22 einen abrupten Einbruch des Verbrauchervertrauens aus. Fast zeitgleich bricht auch die Investitionsbereitschaft in Immobilien ein. Als Ursache kann rückblickend die Insolvenz von Evergrande zugeordnet werden, damals der größte Immobilienentwickler des Landes. Inzwischen sind mindestens 28 weitere Immobilienentwicker insolvent.

Immobilien sind die Standardgeldanlage der chinesischen Mittelschicht. Die Erkenntnis, dass auch die Assetklasse Real Estate kein sicherer Hafen für Ersparnisse ist, trifft die konsumbereite Schicht ins Mark. Der Economist bezeichnet das Platzen der Immobilienblase in China als Impulsion eines Schnellballsystems. Vorher war es völlig normal, dass ein Immobilienentwickler mit den vorab kassierten Anzahlungen aktuelle Bauprojekte finanzierte. Wer eine Immobilie erwerben wollte, musste hofften, dass der Bauträger den tatsächlichen Hausbau mit Finanzströmen zukünftige Interessenten bezahlen konnte.

Die Bedeutung des Immobilienmarkts kann gar nicht überschätzt werden: 70 Prozent des Vermögens der chinesischen Mittelschicht ist in Immobilien gebunden, selbst bewohnten und vermieteten. Die Immobilienbranche erwirtschaftet(e) 20 Prozent des chinesischen Bruttosozialprodukts. Die Neubaupipeline ist riesig: Nur 60 Prozent der seit 2013 per Abschlagszahlung vorfinanzierten Neubauten wurden übergeben. Die Größenordnung der nicht fertiggestellten Immobilien kann mittels der Abb. 3 abgeschätzt werden: Nimmt man den tatsächlich begonnenen Neubau von 1 Mio Quadratmetern pro Monat als Maßstab, dann sind aktuell über 43 Mio. Quadratmeter ( 575 Tausend Wohnungen ) unvollendet. Mindestens eine halbe Millionen chinesische Familien der Mittelschicht wissen nicht, ob sie ihre Anzahlungen je wiedersehen und ob sie überhaupt jemals eine eigene Immobilien besitzen werden. Das erklärt den nachhaltigen Einbruch des Verbrauchervertrauens.

Fosun: in Sippenhaft

Guo Guangchang ist ein chinesischer Selfmade-Businessman (und Milliardär). Er ist CEO von Fosun, einem Beteiligungsunternehmen, dass selbstbewußt behauptet, die moderne Berkshire Hathaway zu sein.

Nun – der Chart spricht eine andere Sprache

Abbildung 4: Preisentwicklung der Fosuna mit Kapitalmaßnamen und Handelsvolumina

Der wohl wichtigste Unterschied: Fosun ist hoch verschuldet (38 Mrd. $ Verbindlichkeiten bei einer Marktkapitalisierung von 41 Mrd. $), während Berkshire Hathaway eher eine zu üppige Cashposition vorhält.

Fosun ist eigentlich gut positioniert. Kerninvestments sind: Versicherungen, Freizeit und Tourismus, Banken, Private Equity, Healthcare. Das Unternehmen betreibt daneben ein Stahlwerk und ist auch Metallhändler. Last not Least gehört (natürlich) eine Immobiliensparte dazu. Die Gesellschaft hält Beteiligungen in 20 Ländern. Etwa die Hälfte aller Assets befinden sich dort.

Fosun ist Global Player und gleichzeitig ein chinesisches Unternehmen. Es liefert eine ideale Projektionsfläche für Investmentrisiken. Den Auslandsbeteiligungen weht der kalte Wind des Protektionismus ins Gesicht, in China stehen die Imperien der Selfmade-Milliardäre unter verschärfter Observation des Staats.

Am Kapitalmarkt dominiert bei Fosun eine Skepsis, die allen hochverschuldeten chinesischen Unternehmen nach dem Zusammenbruch Evergrandes entgegenschlägt. Anfang September verkündete Fosun, die Beteiligung an der börsennotierten Shanghai Fosun Pharmaceutical um drei Prozent reduzieren zu wollen. Dies ist ein für eine Beteiligungsgesellschaft völlig normaler Vorgang. Am Markt halten sich seitdem hartnäckig Spekulationen, dass Fosun auf Druck der Kommunistischen Partei seine Verschuldung abbauen muss oder von seinen Hausbanken zum Verkauf genötigt wurde. Der Aktienpreis ging daraufhin von 6 auf 4,5 HKD zurück.

Wegen der unverkennbaren Probleme im Immobiliensektor laufen in ganz China Rettungsprogramme an, die im Wesentlichen versuchen, die Schulden innerhalb der Wertschöfpungskette der Immobilienwirtschaft bezahlbar zu machen. Hoch verschuldete Unternehmen bekommen Staatsbürgschaften und können sich dann zu Sonderkonditionen refinanzieren. Auch Fosun könnten diese Programme offen stehen. Ferner dürfte Fosun von allen potenziellen Erfolgen der Behörden profitieren, die chinesische Volkswirtschaft zu stabilisieren. Das Unternehmen ist ein veritabler Kandidat fürs Bottom Fishing.

Das Unternehmen wird derzeit mit einem KGV von 4,2 bewertet. Im Januar 2018 kostete eine Aktie zeitweise mehr als 19 HKD, fast viermal so viel, wie aktuell. So überbewertet die Aktie im Januar 2018 war, so preiswert ist sie jetzt. Geht man davon aus, dass die aktuell herumgereichten Befürchtungen der Errichtung eines neuen Eisernen Vorhangs übertrieben sind, stellt ein Investment in die Fosun eine wohl begründete Spekulation auf den Fortbestand der internationalen Arbeitsteilung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit dar.

Nach dem Hexensabbat

Am Freitag verfielen Optionen und Futures (großer Verfall). Die Börsen notierten hohe Umsätze und in der Breite fallende Marktpreise. Die großen Aktienindizes haben die Preisaufschläge im Rahmen der Sommerrallye komplett abverkauft und notieren in Schlagdistanz zu den bisherigen Jahrestiefs. Noch halten sich die Aktienmärkte an das Drehbuch für Seitwärtsmärkte: Sowohl die Preisober- als auch die Preisunterseite einer Tradingrange werden ausgiebig getestet.

Es gilt weiterhin die Aussage, »die massive Skepsis der Marktteilnehmer ist die wichtigste Stütze für die Marktpreise«. Dies verhinderte bislang den weiteren Ausverkauf. Fakt ist allerdings auch: Je länger eine Tradingrange existiert, desto größer ist das Preispotenzial nach deren erfolgreichen Verlassen. Wann dies passiert und welche Richtung eingeschlagen wird, ist pure Spekulation.

Abbildung 5: Saisonalität beim EuroStox-Indes

Nimmt man die Saisonalität zum Vorbild, bildet der Markt in den kommenden drei Wochen ein Preistief aus. Danach stände eine positive Preisentwicklung bis zum Jahresende auf der Agenda. Angesichts der aktuellen Trendsituation übersetzt sich die positive Perspektive als Fortsetzung des aktuellen Seitwärtsregimes.

Abbildung 6: Markttrends

Vor dem Hintergrund eines ungewissen Konjunkturverlauf im Winterhalbjahr ist aber auch eine Fortsetzung der Markttrends recht wahrscheinlich. Fürs »Bottom Fishing« sind sowohl Kapitaleinsatz als auch
Investmentzeitrahmen sehr bewußt zu wählen.

P.S. Die in den zurückliegenden Wochenberichten vorgestellten, »ausverkauften« Werte SEA und Azure haben ihre Bodenbildung seither fortgesetzt und keine neuen Tiefs ausgebildet. Entgegen der aktuellen Marktschwäche kommt kein neuer Verkaufsdruck auf. Wie belastbar diese Beobachtung ist, wird sich zeigen.

Ressourcen

  • Narendra Modi chides Vladimir Putin over Ukraine war, FT 16,9,2022
  • Vladimir Putin acknowledges Chinese ‘concerns’ over Ukraine, FT15.09.2022
  • Putin under pressure: what is Russia’s next move?, FT 17.9.2022
  • Groaning – China’s Ponzi-like property market is undermining faith in the government, Economist 17.09.2022 p. 59
  • Guo Guangchang’s highly leveraged empire attracts scrutiny, FT 16.9.2022