Wochenbericht 19/23

Zauberwerkzeug AI

Das man sich nun mit einer Suchmaschine unterhalten kann, ist für die Generation »Raumschiff Enterprise« der ultimative Beweis, das Fortschritt funktioniert. Mit ChatCPT steht der Bordcomputer überall und kostenlos zur Verfügung. Die Herausforderungen an die ökonomische Umsetzung gleichen denen, die Facebook und Google erfolgreich nach der Jahrtausendwende gemeistert haben.

Stuttgart, 13. Mai 2023.

In der vergangenen Woche herrschte an den Finanzmärkten gepflegte Langeweile. Die Notierungen pendelten orientierungslos hin und her. Blogs und Tageszeitungen übten sich in der Interpretation zufälliger Zeitreihen. Der Hieronymus Wochenbericht wendet sich nochmals dem Trend der Gegenwart zu: Generative AI.

Abbildung 1: AI in aller Munde. Entwicklung der Suchanfragen bei Google

Google I/O

Mit dem IPO von Google im Jahr 2004 schien die Zeit des Stakeholder-Kapitalismus angebrochen zu sein. Zentraler Wert der börsennotierten Gesellschaft war das Motto »Don’t be evil.«

We believe strongly that in the long term, we will be better served—as shareholders and in all other ways—by a company that does good things for the world even if we forgo some short term gains, steht im IPO-Prospekt.

Das ist sehr lange her. Inzwischen hat sich das Unternehmen an die Werbewirtschaft verkauft und trachtet danach, seine Marktanteile in diesem Segment auch auf dem Rücken der Benutzer seiner Webseiten zu maximieren. Hierfür setzt der Konzern systematisch und erfolgreich AI-Tools ein. So erfolgreich, dass viele seriöse europäische Webseite kein Google Analytics mehr verwenden, aus Furcht, den Anforderungen des europäischen Datenschutzrechts nicht mehr zu genügen. AI ist seit längerem Google’s Geheimwaffe für die Ausweitung des margenstarken Werbegeschäfts. Die vollständige Durchleuchtung der Besucher der Webseiten ist zwar »evil«, aber ein notwendiger, hinzunehmender Kollateralschaden.

Dann betrat OpenAI die Bühne und Generative AI eroberte die Welt. Mit einem Schlag veränderten sich die Spielregeln. Microsoft hatte plötzlich die Pole Position in diesem wohl wichtigsten Zukunftsmarkt inne. Getrieben von dieser Realität muss Google auch halbfertige Lösungen öffentlich machen.

Dazu diente die Entwicklerkonferenz Google I/O, die letzte Woche zu Ende ging. Dort präsentierte Sundar Pichai, der CEO, eine lange Liste an geplanten innovativen Features. Google sah sich genötigt, ein Füllhorn an AI-Lösungen zu präsentieren, die, jede für sich, das Potenzial haben, die Welt zu verändern. Die Medien feierten (auch mangels alternativer News) die Ankündigungen, klebten an den Lippen des CEO, wie früher auf den Jahresperformances des Apple-CEO.
Die Google I/O war PR-technisch ein voller Erfolg. Auch der Börsenkurs profitierte. Seit der Präsentation ist die Marktkapitalisierung um 122 Mrd. Dollar gestiegen, das ist der kombinierte Marktwert von Starbucks und Intel, auch keine ganz kleinen Firmen. 122 Mrd. $ pures Spekulationskapital.

Keines der vorgestellten Features ist marktreif. Es sind bestenfalls Beta-Versionen, die vor einer allgemeinen Markteinführung ausgiebig getestet werden müssen. Ob sie auch ökonomisch Sinn machen, ist längst nicht ausgemacht. Ob die Besucher der Webseiten von Google-Produkten als Gegenleistung für die Nutzung der neuen AI-Features eine bis dato undenkbare Durchleuchtung akzeptieren werden und die AI-System so mit wertvollen Optimierungsdaten versehen, ob die Vorteile für Werbetreibende in einem Ertragssprung in der Bilanz münden, ist Gegenstand der Spekulation.

Google Internetsuche im AI-Zeitalter

Die Idee ist, anstatt einer Stichwortsuche (wie aktuell) Fragen mittels generativer AI zu beantworten, in der Internetsuche, beim Verfassen von Texten, bei der Beantwortung von E-Mails oder der Erstellung einer Präsentation. Die Botschaft des Google-CEO: Die Antworten sind individuell erstellte PR-Texte, deren Erstellung man als Dienstleistung an die Werbetreibenden veräußern wird. Zeitschriften werden überflüssig und Google griffe sich die Budgets für das Marketing über diesen Kanal ab.

Für eine Übergangszeit werden weiterhin Links zu den Werbetreibenden dargestellt. So können sich die Nutzer an die neue Welt gewöhnen.

Das ist die Marketing-Fassade des Konzerns.

Open Source als Innovationshub

Die Mitarbeiter sind offenbar weniger zuversichtlich. In einem geleakten internen Dokument beschreibt ein Google-Mitarbeiter ehrfurchtsvoll die Dynamik der Softwareentwicklung, nachdem Meta sein AI-Modell als Open Source veröffentlichte. Bereits sechs Wochen später waren funktionsfähige Open-Source-ChatGPT-Clone verfügbar. Sowohl die Geschwindigkeit der Entwicklung als auch deren Innovationskraft lässt den Google-Mitarbeiter zu Kreuze kriechen. »Warum entwickeln wir eigentlich mit immensem Aufwand mächtige Inhouse-Systeme,« fragt er, »wenn das außerhalb unserer fest gefügten Strukturen viel effizienter geht.«
Im Wochenbericht Big is beautiful vertrat Hieronymus die These, dass der AI-Markt der Zukunft zwischen den großen US-Technologiekonzernen ausgefochten wird, mit klarem Vorteilen für Microsoft. Ob diese Aussage noch haltbar ist?

Meta ist ob des Coups, sein AI-Modell LLaMA Open Source zu stellen, technologisch der klare Gewinner. OpenAI und Google erscheinen gegen die optimierten LLaMA-Versionen wie antiquierte Dinosaurier. Ob es dem Konzern gelingt, hieraus ökonomisches Kapital zu schlagen, ist allerdings ebenso ungewiss, wie bei Microsoft oder Google.

Trotzdem zieht AI immer mehr selbsternannte Master-Minds in seinen Bann.

Auch Softbank setzt auf AI

Dazu zählt sich auch Masayoshi Son, Gründer und strategischem Kopf von Softbank. Die Beteiligungsgesellschaft realisiert gerade die Erträge aus einem 20-jährigen Engagement bei Alibaba und stellt sich mach fehlgeschlagenen, riskanten Wetten auf disruptive Prozesse im Vision-Fonds neu auf. Nachdem dieser Fonds mit Kapital aus den Emiraten und Saudiarabien überschwemmt worden war, investierte man in alles, was gerade gehypt wurde: Shared-Offices, Super-Apps, Botendienste, usw, und verspielte im wahrsten Sinne des Wortes die Erträge aus dem sinnvollen Alibaba-Engagement.

Heute steht Softbank vor einem Neubeginn. Masayoshi Son propagierte bereits 2017 das Thema AI als Wachstumsmarkt der Zukunft, platzierte hier aber keine signifikanten Beteiligungen. Ob es gelingt, den Coup des Jahres 2001 (Alibaba) zu wiederholen?

Die Konkurrenz scheint groß zu sein. Das Management von Palantir trat diese Woche vor die Presse und pries seine maßgeschneiderten Inhouse-AI-Lösungen an, zu denen inzwischen auch generative-AI-Tools gehören. Palantir kann man die Nachfrage nach maßgeschneiderten AI-Lösungen kaum bedienen, sagte ein Firmensprecher. Der Aktienkurs zog nach dem Kommentar aus dem Unternehmen an. Investments in AI sind einfach Mode.

Struktureller Konservatismus als Lebenslinie und Sargnagel zugleich

Seit einiger Zeit wird die Internetsuche über Bing, der Suchmaschine von Microsoft durch ChatGPT4 unterstützt. Was zuerst nach einem genialen Coup aussah, Google massenhaft Suchanfragen zu entziehen, entpuppt sich nach einem viertel Jahr als Rohrkrepierer: Der Anteil von Suchanfragen, der über Bing abgewickelt wird, stieg um gerade mal 0,25% (40 Mio. pro Tag). Stattdessen riefen die Nutzer ChatGPT direkt auf (65 Mio Aufrufe pro Tag). Die frei zugängliche API wird inzwischen als Commodity benutzt, die genauso wie das Netz ständig präsent ist. Hieraus einen Ertragskanal zu generieren, wird Microsoft nicht leicht fallen.

Die Bereitschaft von Entwicklern, neue Tools in ihren Arbeitsalltag zu integrieren, steht in einem Kontrast zu den sonstigen Gewohnheiten von Internet-Nutzern. Trotz offensichtlicher Vorteile von Bing hielten 94 Prozent der Nutzer in den USA an der Suche über Google fest.

In den Köpfen der Internetnutzer scheint die Welt ordentlich sortiert. Google ist für Suchanfragen, Microsoft stellt Excel und Word, Filme gibts bei Netflix und Musik bei Spotify. Es sei denn, man ist Mac-Nutzer, dann kommt alles von Apple, dass auch entscheidet, welche Suchmaschine verwendet wird. Der aktuelle Trend, Web 2.0 Internetdienstleistungen durch AI-Komponenten evolutionär weiterzuentwickeln, kommt dem strukturellen Konservatismus der Mehrheit der Internetnutzer entgegen. Sie müssen nichts umstellen und werden ganz langsam datentechnisch in die Zukunft begleitet. Auf diesen Gewöhnungseffekt setzen die Technologieriesen. Diese Entwicklung begründete allerdings keine spekulativen Preisschübe bei den Aktienkursen dieser Unternehmen.

Bereits heute kann auf normalen Smartphones ein experimenteller ChaptGPT-Clone aufgesetzt, trainiert und autonom benutzt werden. Es ist absehbar, bis die Systeme mainstreamfähig werden und Nutzer entscheiden können, einen Online-AI-Service zu benutzen und mit persönlichen Daten zu zahlen oder einen privaten AI-Bot auf die individuellen Bedürfnisse zu trainieren und isoliert oder ergänzend einzusetzen. Hieronymus geht davon aus, dass dieser Dualität die Zukunft gehört. Zumindest in Europa wird es Standard werden, sich aus frei zugänglichen Quellen mit selbst trainierten AI-Bots optimierte Suchergebnisse zu generieren. Im Mutterland des Kapitalismus sieht das möglicherweise anders aus und in China und anderen Autokratien ist das schwer vorstellbar. Die gesellschaftliche Relevanz dieser unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven ist evident. Ob die derzeitigen Internetgiganten die großen Gewinner dieser Entwicklung sein werden, ist noch nicht bestimmt.

Ressourcen

  • Google: “We Have No Moat, And Neither Does OpenAI”, geleaktes Dokument
  • Google: AI additions to search should stave off rivals – Company announces significant upgrade to core online business, FT 11.5.2023
  • SoftBank To Renew Focus on AI, Wall Street Journal, 12.5.2023
  • SoftBank: $39bn loss is a monument to Masayoshi Son’s risk management flaws (Lex), FT, 11.5. 2023
  • Model socialists – Just how good can China get at generative AI?, Economist, 12.5.2023 p. 51
  • How Google is making up for lost time, Platformer, 12.5.2023 via Substac