Dieser Zusammenhang beschäftigt Hieronymus bereits eine ganze Weile. Die Arbeitshypothese war, dass die Abwertung und der simultane Abverkauf europäischer Dividendentitel schlicht die Konjunkturprognosen der Marktteilnehmer wiedergeben.
Die Frage, was sich im Oktober verändert hat, konnte nicht beantwortet werden. Seitdem sind europäische Aktien nicht nur im Aufwärtstrend. Sie sind unangefochtene Outperformer. Dies wurde in früheren Ausgaben ausführlich diskutiert. Eine belastbare Begründung fehlte bislang. Einziges belastbares Indiz für verborgene Prozesse ist die gesunkene Volatilität (Wochenbericht 2/23).
Seit dem Frühsommer 2022 erhöht die FED in Monsterschritten den Leitzinsen in den USA. Erstmals in diesem Jahrtausend ist es interessant, Cash in die USA zu transferieren und dort entweder auf einem Tagesgeldkonto aufzubewahren oder gleich verzinste US-Staatsanleihen zu kaufen. Die Zinserhöhungen der FED wirkten wie ein Geldstaubsauger. Sichteinlagen überall auf der Welt wurden geplündert und das Kapital in die USA transferiert.
Der Dollar war gesucht und wertete gegenüber allen anderen Währungen deutlich auf. Der Dollar-Index legt Zeugnis ab, für die enormen Kapitalbewegungen. Im Oktober 2022 endete diese Entwicklung. Die Ursachen sind mannigfaltig: Der Dollar erschien immer überbewerteter, die Bewertung befeuerte die Rezessionsängste in den USA, und schließlich hatten die anderen Notenbanken ihre Geldpolitik ebenfalls an das Inflationsregime angepasst.
Fakt ist: Seit Oktober 2022 wird das Geld zurückgeholt. Euro, Australdollar und Yen werten simultan auf. Die Liquidität fehlt nun in den USA. Konsequenz: Die dortigen Aktienmärkte sind plötzlich Underperformer. Insbesondere Europa lieferte durch sein geeintes Auftreten im Ukraine-Konflikt in Kombination mit niedrigen Aktienbewertungen rückblickend viele Kaufgründe.
Die Gretchenfrage ist natürlich: wie weit kann diese Entwicklung noch tragen?
Am Donnerstag äußerte sich Frau Lagarde zur weiteren Zinspolitik der EZB: Die EZB wird auf absehbare Zeit die Zinsen weiter anheben. In den USA ist man weiter. Die FED könnte den Zinserhöhungszyklus bereits im März abschließen. Entweder weil die Inflationsraten sinken und/oder sich die ökonomischen Perspektiven weiter eintrüben.
Damit droht eine Wiederholung des üblichen Musters: Mit dem Ende eines Zinserhöhungszyklus beginnt eine Schwächeperiode am Aktienmarkt. Falls die EZB in dieser Marktphase am Zinserhöhungszyklus festhält, wäre die Outperformance europäischer Aktien definitiv beendet.
Einen Vorgeschmack für dieses Szenario lieferte die zweite Wochenhälfte: Der Euro wertete nach dem Statement der EZB-Präsidentin auf, Aktien- und Anleihenpreise gaben gleichzeitig auf breiter Front nach,
Charttechnisch notieren sowohl die europäischen Aktien wie auch die Renten an interessanten Wegmarken. Im Anleihebereich handeln die Renditen an der unteren Unterstützung des Aufwärtstrends, Aktien notieren zeitgleich am oberen Rand der Handelsspanne des ausgeprägten Seitwärtsmarkts.
Allein der aufziehende Winter in Europa ist möglicherweise bereits der notwendige Katalysator für die Auflösung der aufgezeigten Korrelationen.
Am Freitag beantragte die Krypto-Bank Gemini in den USA Gläubigerschutz. Das ist gleichbedeutend mit einem Insolvenzantrag. Betroffen sind Kunden, die in »Earn« investiert haben. Das war ein hochverzinstes Krypto-Sparbuch. Man zahlte US-Dollar ein, der Kontostand wurde auch stets in USD ausgewiesen. In Hintergrund verlieh Gemini das Geld über diverse Krypto-Lending-Plattformen.
Die Lending-Plattformen warben stets mit der Überdeckung der ausgegebenen Kredite. Gläubiger – nichts anderes sind Investoren in Lending-Plattformen – gaben die Kredite mit der Gewissheit, dass die Kreditoren über ausreichende Sicherheiten gegenüber einem Zahlungsausfall verfügten. Damit – so schien es – könnte man der Nullzinsphase mit überschaubaren Risiken entkommen.
Dann kollabierten die Bewertungen für Krypto-Assets, Banken erlebten Krypto-Bankruns und schließlich vernichtete die Pleite von FTX nochmals bereitgestelltes Collateral. Auch Gemini verzeichnete massive Kapitalabflüsse.
Diesen Stresstest überlebte das Earn-Produkt nicht. Bereits seit einigen Wochen sind die Einlagen in Earn eingefroren. Nun besiegelt der Insolvenzantrag das Ende. Wieviel Kapital die Kunden nach der Abwicklung des Unternehmens zurückbekommen, ist ungewiss.
Tragisch für die Nutzer: Sie wurden mit der Aussage geködert, Gemini sei von der US-Finanzaufsicht überwacht und deshalb seriös.
So dramatisch die Entwicklung für die betroffenen Investoren ist. Der Gesamtmarkt hat dies offenbar längst antizipiert. Die Notierungen für Krypto-Coins erholten trotz der Ankündigungen weiterer Zinserhöhungen in der vergangenen Woche weiter.
Selbst Lending-Plattformen verzeichnen wieder steigendes Interesse bzw. die Bewertung steigt:
Nun ist es schwer vorstellbar, dass die Aktien- und Rentenmärkte zur Schwäche neigen und gleichzeitig das hochspekulative Krypto-Segment floriert. Die Marktgesetze gelten auch hier; gerade die Krypto-Assets spürten den Einfluss der schwindenden Liquidität auf die Wertentwicklung.
Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass aktuell immer noch die Übertreibung zur Preisunterseite korrigiert wird. Was wie ein neuer Aufwärtstrend aussieht, ist in Wahrheit eine Baermarketrallye, die allenfalls in eine Phase stabiler Marktpreise für Krypto-Assets führt.
Zum Abschluß eine Variante des Charts des S&P 500 aus dem [ersten Wochenberichts](/week(301) dieses Jahres.
In dieser Darstellung wird die Dominanz des übergeordneten Abwärtstrends in den USA deutlich.
Die Signale von der Liquiditätsfront deuten auf eine Fortsetzung des übergeordneten Trends, auch wenn sich viele eine nachhaltige Outperformance Europas und der Krypto-Märkte wünschen. Bei der Geldanlage geht es bekanntlich primär nicht um Wunschdenken sondern um eine realistische Bewertung der nahen Zukunft.
Die Aufnahme des Testbetriebs verzögert sich (um eine Woche).