Wochenbericht 33

In der Ruhe liegt die Kraft

Gelingt es dem »Westen« Russland militärisch und ökonomisch zu degradieren? Immer mehr Indizien deuten in diese Richtung. Die Blicke richten sich konsequenterweise bereits auf die Phase danach. Für zielfgerichetete Investments ist es aber noch zu früh.

Ahrensburg, 20. August 2022.

Status des Kräftemessens im Kalten Krieg

Während die Augen der globalen Öffentlichkeit weiterhin auf die Kampfhandlungen in der Ukraine gerichtet sind, eröffnet Russland in Afrika eine neue Front. Die Rede ist von Mali.
Der Abzug der französischen Truppen besiegelte das Ende des internationalen Einsatzes zur Eindämmung des extremen Islamismus in diesem Land. Spricht man mit oppositionellen Migranten aus dem Land, ist die Ermordung von Gaddafi im Jahr 2011 und der anschließende Zerfall der Staatlichkeit in Libyen die eigentliche Ursache für die Erstarkung des Islamismus. Vielerorts herrscht zudem eine tiefe Abneigung gegen die ehemaligen Kolonialstaaten und deren Verbündete.

Diese Interpretation der Geschichte erlaubt es Russland, wie zuletzt in Syrien, sich als Retter der Staatlichkeit in Westafrika anzubieten. Solange die UN-Stabi­lisier­ungs­mission in Mali läuft, besteht die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen russischen Soldaten/Söldnern und westlichen Truppen. Das würde dem aktuellen Kalten Krieg eine neue Dimension hinzufügen. Hieronymus erwartet, dass dieses Angebot Russlands auch von den Eliten anderer Länder der Region als attraktiv bewertet wird und dass Russland so seinen Einfluß in West-Afrika ausbauen kann. Der »Westen« ist derweil bemüht, die Achse der Solidarität mit der Ukraine zu erhalten. Der Fokus liegt klar in Europa, was selbst der Türkei erlaubt, seine Einflußsphäre zu erweitern.

Die Invasion im Irak 2004 und die Absetzung von Gaddafi im Jahr 2011 haben in weiten Kreisen in West-Afrika ein tiefes Mißtrauen gegenüber »dem Westen« hinterlassen. Russland hingegen genießt wegen seiner Unterstützung der Bewegung der Blockfreien Staaten im Kalten Krieg einen Vertrauensvorschuß, der auch nach den jüngsten imperialen Handlungen weiter wirkt.

Um so interessanter und entscheidender sind die aktuellen Erfolge der Ukraine. Nach sechs Monaten heißem Krieg dreht sich das Blatt. Die Ukraine ist hervorragend ausgestattet und weiss die nun verfügbare Militärtechnik geschickt einzusetzen. Russland dagegen wirkt ausgezehrt. Ein Vergleich zum Deutschland des Jahres 1942 drängt sich auf. Damals begann die Rote Armee dank US-Waffenlieferungen erste Offensiven und drängte die Wehrmacht schließlich aus dem Land.

Eine weitere Analogie zur Situation im Zenit des zweiten Weltkriegs: Russland ist ökonomisch angezählt. Selbst gemäß offizieller russischer Statistiken zahlt das Land inzwischen einen hohen ökonomischen Preis für die Invasion: (Differenzen Jan/Juli 2022)

Indikatoren & Kennzahlen%Preise%Produktion%
Umsatz Einzelhandel-10Haushaltsgegenstände+22Waschmaschinen & Kühlschränke-50
Lagerbestände-13Autos+25PKW-90
Großhandelsumsätze-20Medikamente+20Elektromotoren-33
Passagierflüge-83  Dampfturbinen-100
Luftfracht-70    

Geld ist in dem Land zwar ausreichend verfügbar, dessen (Außen-)Wert ist dank der Erlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen sogar gestiegen. Als Tauschmittel ist es allerdings nur bedingt geeignet. Innerhalb der Landesgrenzen gibt es wenig Angebot. Trotz offener Grenzen ist es wegen der Sanktionen kaum möglich, knappe Güter zu importieren. Kein Wunder, dass der «kleine Grenzverkehr« boomt.

Abbildung 1: Kriegsbedingte Ab- und anschließende Aufwertung des Rubel gegenüber dem US-Dollar.

Russland besteht darauf, dass Rohstoffexporte in Rubel beglichen werden. Dieser Auflage kommen die meisten »Gazprom-Kunden« inzwischen wegen Schlupflöchern in den Sanktionsbestimmungen nach. Exporte nach Indien, China und anderen Handelspartnern, die keine Sanktionen verhängt haben, werden ebenfalls in Rubel (oder Yuan) abgerechnet.

Das macht den Rubel anfällig für starke Preisschwankungen.

Tatsächlich reflektiert der Außenwert des Rubel den Wert der russ. Volkswirtschaft (Differenz von Marktzins und Wirtschaftswachstum in Russland und den USA). Ein Rohstoffexporteur verlangt üblicherweise Dollar oder Euro als Gegenwert für die Warenlieferung. Die Erlöse landen letztlich auf einem Fremdwährungskonto bei der Zentralbank. Damit wird aus volkswirtschaftlicher Perspektive ein Asset gegen ein anderes ersetzt. Russland erhält (auf eigenen Wunsch) aber die Landeswährung. Der Rohstoffexport erzeugt also Rubel. Trotz sinkendem BIP steigt die Geldmenge.

Das Ende der Sommerrallye

Preisbewegungen im Sommer sind häufig technischen Faktoren geschuldet und wenig nachhaltig.

Dies bestätigt sich auch in diesem Jahr. Der Eurostoxx Index der 50 größten Unternehmen der Eurozone hat in der vergangenen Woche knapp unterhalb der Notierungen im Juni ein Top ausgebildet und mit einem Schlußkurs auf Wochentief geschlossen.

Abbildung 2: Preisverlauf des Eurostoxx 50.

Die Blicke richten sich nun auf die Unterstützung bei 3400 Punkten. Dies entspräche einem Preisabschlag von fast 10 Prozent.

Energieintensität oder Grad der Spekulation?

Abbildung 3: Aktienpreise (S&P 500 ohne Energiewerte) und Ölpreise (invertiert) im Vergleich

Trägt man den invertierten Ölpreisverlauf zusammen mit Aktienpreisen in ein Diagramm ein (Abb. 3), findet sich eine erstaunliche Korrelation. Scheinbar ist (die US-Ökonomie) heute genauso abhängig von Energiepreisen, wie im 20. Jahrhundert.

Das ist aber definitiv nicht der Fall:

Abbildung 4: Infographik der FAZ zur Energieintensität

Oder die Marktpreise tragen aktuell deutlich mehr spekulative Anteile.

Darauf deutet das Comeback einiger Meme-Stocks hin, die in den vergangenen Wochen (mangels anderer Themen) wieder im Zentrum vieler Diskussionsforen standen.

A 20-year-old university student has made a roughly $110mn gain by selling a stake in struggling retailer Bed Bath & Beyond, after its stock price soared during a month of frenzied trading reminiscent of last year’s meme stock boom. (..) acquired nearly 5mn shares in Bed Bath & Beyond in July, after dismal earnings and the ousting of its chief executive sent its stock price plummeting to $5.50. On Tuesday Bed Bath & Beyond surged to more than $27 a share.(FT)

Kommen die Aktienpreise in den kommenden Wochen leicht zurück, baut sich schlicht der Spekulationsgrad des Marktes ab. Hohe Spekulationsanteile sind typische Merkmale von Baermarketrallyes.

Der frühe Vogel frißt den Wurm?

Wegen der oben angerissenen konstruktiven Perspektiven im russisch-ukrainischen Konflikt verbessern sich in den Industriestaaten die ökonomischen Perspektiven. Spätestens wenn die Marktpreise nochmals die Jahrestiefs testen, dürfte eine Diskussion um strategische Investments einsetzen.

Das rückt eine Untersuchung von Richard Bernstein Advisors ins Blickfeld. Die Analysten schauten sich die Performance eines Investments 6 Monate vor und 6 Monate nach einem markanten Markttief an. Das Ergebnis ist erstaunlich: in sieben der vergangenen Baermarkets war es zielführender abzuwarten, bis der Markt klar zum positiven gedreht hat und dann zu investieren, als proaktiv tätig zu werden. »Späte« Investments waren nicht nur erfolgreicher, wie wiesen auch deutlich geringere Drawdowns auf.

Das beantwortet nicht die Frage, ob das bisherige Jahrestief im Aktienmarkt bereits ein markantes Markttief darstellt oder ob dies im Herbst nochmals (deutlich) unterschritten wird. In Europa ist dies angesichts des Risikos einer Energiekrise im Winter sogar sehr wahrscheinlich.

Abbildung 5: Charttechnische Auswertung für die Prognose von Preisminima (Quelle: Mark Ungewitter)

Charttechnisch ist ein nochmaliger Test der Jahrestiefs sehr wahrscheinlich. Im ungünstigsten Fall ist ein Sell-Off nach dem Muster des Herbstes/Winters 2008/9 für eine Marktbereinigung notwendig. Wahrscheinlicher ist eine Seitwärtsphase wie in den Marktkorrekturen 2012 und 2015/16. Der Aufbau offensiver Positionen drängt sich aktuell nicht auf.

Ressourcen

  • The Sanctions’ Impact on Russia, The Overshoot, substack.com, 19.08.2022
  • University student makes $110mn trading meme stock favourite Bed Bath & Beyondi. – Twenty-year-old Jake Freeman amassed big stake in struggling retailer before share price soared, FT 18.8.2022