In der Abb. 1 sind Langzeitwirkungen vorangegangener Rezessionen und die aktuelle Projektion der britischen Notenbank zusammengetragen. Die Bank of England sieht kein Wachstumspotenzial bis (mindestens) 2024! Ein Grund ist sie selbst: Ungeachtet des wenig inspirierenden Ausblicks erhöht sie die Leitzinsen aggressiv und kündigt weitere Zinsschritte an.
Selbst dann wird die Inflation im ersten Quartal 2023 auf 13 Prozent klettern. Es wird bis zum Jahresende 2023 dauern, bis wieder ein positives Wirtschaftswachstum möglich ist, so die Bank of England.
Der Brexit wirkt langfristig sehr negativ. Nicht der Zugang englischer Unternehmen zu Auslandsmärkten ist der Engpass, sondern die strikte Migrationspolitik. Die hohe Inflation ist einerseits Ergebnis der Offenheit des Landes für ausländische Produkte und Dienstleistungen. Wesentlicher Inflationstreiber ist der Wettbewerb von Unternehmen um geeignetes Personal. Im Verlauf des Jahres 2023 wird die Arbeitslosigkeit rezessionsbedingt steigen. Erst danach sieht die Notenbank positive Konjunkturperspektiven.
10 Tage nach seiner »Malaise Speech« ernannte Jimmy Carter Paul Volker zum Vorsitzenden der FED. Dieser führte die USA mit massiven Zinserhöhungen in eine heftige Rezession, die Jimmy Carter zwar seinen Job kostete, aber den Boden bereitete für die Reaganomics der 1980er.
Die derzeit aktive Führungsriege der US-Notenbank FED kommuniziert unablässig, die Lehren aus der zu schleppenden Veränderung der Geldpolitik in den 1970ern gezogen zu haben. Das aktuelle Ziel ist, die derzeit als überhitzt angesehene US-Ökonomie sanft abzubremsen (Soft Landing). Die Überhitzung selbst wird anhand zweier Parameter gemessen: Arbeitsplatzaufbau und Inflation.
Trotz deutlicher Zinsanhebungen sind beide Parameter aufwärts gerichtet. In der nachrichtenarmen Sommerzeit reagieren die verbliebenen Marktteilnehmer unmittelbar auf jede offizielle Stellungnahme der FED. So auch am Dienstag.
In einer Pressemitteilung wurde die Haltung der FED bekräftigt, Inflationsbekämpfung hat absoluten Vorrang. Das nahmen Anleihehändler zum Anlass, massenhaft den Verkaufsknopf zu drücken. Am Folgetag drehte sich der Trend wieder um. Im Ergebnis weist der Anleihemarkt derzeit eine historisch hohe Schwankungsfreude auf, dies ist oft ein Vorbote für einen Trendwechsel.
Am Freitag wurden turnusgemäß die Non Farm Payroll-Daten veröffentlicht. Sehr überraschend meldeten die Unternehmen die Neubesetzung von 528.000 Stellen. Fast doppelt so viele wie erwartet. Damit sind alle Spekulationen um ein baldiges Ende des Zinserhöhungszyklus hinfällig: Im September wird die FED die Leitzinsen erneut um 0,75 % heraufsetzen. Weitere Zinserhöhungen werden folgen.
Die US-Ökonomie ist definitiv überhitzt. Warum die US-Politik gerade in dieser Situation ein historisches Investitionspaket auf den Weg bringt (siehe Wochenbericht 30: Sommerrallye), erschließt sich nicht.
US-Privatanleger reagieren auf ihre eigne Art. Dies zeigt der Dumb Money Index
. Dumb Money ist das Spielgeld wenig erfahrener Privatanleger. Der Index berücksichtigt unter anderen die Anzahl der in der ersten Handelsstunde aufgegebenen Kauforders. Der Dumb Money Index ist ein guter Vorlaufindikator für Preisübertreibungen.
Vor etwa drei Wochen zeigte er eine Übertreibung zur Preisunterseite an.
Danach wurden die Privatanleger aktiv. Es floss – trotz oder wegen Sommerhandel – überproportional viel spekulatives Geld in den US-Aktienmarkt. Gleichzeitig verstärkte sich die Inversion der Zinsstrukturkurve: typische Kennzeichen für eine Bearmarketrallye. Die jüngsten Preisanstiege sowohl bei Aktien als auch bei Anleihen stehen auf tönernen Füßen.
Bezeichnend für die aktuelle Stimmung am Kapitalmarkt ist ein Meinungsartikel von Eduardo Porter bei Bloomberg Options. Er fragt, welche Perspektiven der Kapitalmarkt nach einer erfolgreichen Eindämmung der Inflation bieten könnte.
The problem is that the new normal will return us to a version of the hole we’ve been in: a morass of shrinking workforces and low investment, stagnant wages and rampant inequality that gummed up prosperity for years.
Dieser Aufzählung ist eine manifestierte Zweiteilung der Welt hinzuzufügen, an der gerade fleißig gewerkelt wird:
Im letzten Wochenbericht wies Hieronymus der Türkei eine Schlüsselrolle in einem möglichen geopolitisch/ökonomischen Regimewechsel zu. Bereits diese Woche liefert Präsident Erdogan den nächsten Puzzlestein. Am Freitag vereinbarten die autokratischen Staatsführer eine intensivere Zusammenarbeit. Die Türkei profiliert sich als Zwischenhändler für sanktionierte russische Waren und Dienstleistungen sowie als Urlaubsdestination.
Unmittelbar nach der Verkündigung der Ergebnisse des Treffens der Präsidenten begann die Diskussion um Sanktionen der Türkei und einen Abzug ausländischer Firmen aus der Türkei. Wegen der engen Verflechtungen könnte dies die Debatte des Herbstes werden - mit dem Potenzial, die Nato (vorübergehend) zu immobilisieren und die Einheitsfront der Sanktionierung des russischen Angriffskriegs zu brechen.
Die USA haben den türkischen Banken bereits im Juni unmißverständlich signalisiert, dass keinerlei Umgehungen der westlichen Sanktionen toleriert würden. Das schließt die Akzeptanz des russischen Kreditkartensystems MIR ein, mit dem russische Touristen in der Türkei direkt auf ihre Rubel-Guthaben zugreifen können. Solange die türkische Lira frei konvertierbar ist, wären die Kapitalmarktrestriktionen gegenüber Russland aufgehoben. Die Akzeptanz der MIR-Kreditkarte stand aber offenbar im Zentrum der Gespräche zwischen Erdogan und Putin, ebenso die Modalitäten einer Abrechnung bilateraler Lieferungen in Rubel. Sollte die Türkei offiziell Militärgeräte an Russland liefern, entstünde die absurde Situation, dass in der Ukraine auf beiden Seiten der Front Nato-Waffen eingesetzt würden.
Mutter Courage lässt grüßen.
Die Ereignisse zeigen, wie auch die völlig überzogenen Reaktionen Chinas auf den Besuch Pelosie’s in Taiwan, die Instabilität des gegenwärtigen geopolitischen Systems. Alle Beteiligten wissen um die Fragilität und versuchen sich für den Wechsel in den nächsten (meta-)stabilen Systemzustand zu positionieren, wohl wissend, dass ein falscher Schritt unmittelbar in den dritten Weltkrieg führt.
Insgesamt werden die Fronten der neuen Zweiteilung der Welt klarer. Die Achse Peking – Moskau – Ankara – Teheran markiert wohl nicht zufällig die uralte Grenze zwischen Orient und Okzident.
Abschließend: Die scheinbare Perspektivlosigkeit der Gegenwart ähnelt der im Jahr 1979. Als Jimmy Carter seine Malaise-Speech hielt, konnte sich niemand den ökonomischen Boom der 1980er vorstellen. Die Trefferquote von Katastrophen- oder Stagnationspropheten ist grottenschlecht. Deshalb ist die Abwesenheit kurzfristig absehbarer Verbesserungen des makroökonomischen Umfelds kein Anlass, massiv auf sinkende Notierungen oder gar einen kapitalen Crash zu setzen. Gefährlich ist allenfalls eine Infektion mit dem Spekulationsvirus der aktuell laufenden Sommerrallye.
Obwohl Russland weitgehend vom internationalen Kapitalmarkt ausgeschlossen ist, existiert ein Wechselkurs des Rubel zum US-Dollar. Der Handel ist dünn und die Aussagekraft gering. Trotzdem sind Unternehmen verpflichtet, ihre in Rubel notierten Assets entsprechend dem offiziellen Wechselkurs bilanziell zu erfassen.
Der Rubel ist in den letzten Wochen ein wenig abgewertet, hat sich per saldo aber auf Jahressicht um 10 Prozent gefestigt. Verbliebene russische Assets sind also 10 Prozent mehr wert, als vor Kriegsbeginn. Dies betrifft insbesondere Geschäftsbanken, die nicht liquidierbare russische Vermögenswerte aufweisen. Die österreichische Raiffeisen International ist diesbezüglich besonders exponiert. Die Bank löste seit Kriegsbeginn gerade 22 % ihrer Rubel-Engagements auf. Allein wegen der hohen Volatilität der Währung verbuchte die Bank im abgelaufenen Quartal einen Windfallertrag von 3,1 Mrd. $.
Der Aktienkurs hat sich konsequenterweise um fast 30 Prozent von seinen Tiefständen erholt. Die Aktie kostet aber trotzdem weniger als die Hälfte der Vorkriegsperiode. Hieronymus spekulierte mit einer Stillhalterposition auf eine temporäre Erholung des Aktienkurses. Dank der positiven Währungsentwicklung war dieses Engagement zielführend.
Die nicht existente Marktreaktion auf die sehr positiven Quartalsergebnisse deutet auf ein Auslaufen der Erholungsphase hin. Nicht einmal automatische Handelssysteme, die Quartalsberichte auf Handelsoppurtunitäten hin abklopfen, bewerten die ausgewiesenen Erträge als Kaufsignal. Die Spekulation wird so nicht fortgeführt. Stattdessen bietet sich angesichts der sich abzeichnenden Rezession in Osteuropa allenfalls eine Wette auf wieder sinkende Notierungen an (Short Call).