Wochenbericht 23

Völlig losgelöst

Konjunkturpaket, Anleihenkaufprogramm, 60er-Jahre-Summerfeeling. Das Leben ist zurück. Jetzt wird gefeiert. Auch und insbesondere an den Finanzmärkten.

(Stuttgart, 6. Juni) Der metrologische Sommeranfang markiert auch gesellschaftlich eine Zeitenwende. Die Menschen lassen die dunkle Jahreszeit hinter sich – 2020 mit dreimonatiger Verspätung. »Back to normal» lautet die Devise. Pandemie — das war gestern. Gut – Fernreisen gehen erstmal nicht. Also ab nach Italien, natürlich mit dem Auto. Wie es die Großeltern in den 1960er Jahren vorgemacht haben, mit Azzurro im Ohr.

Pandemie war gestern

In den Industriestaaten und asiatischen Schwellenländern sind Infrastrukturen aufgebaut, die eine Todesrate von etwa ein Prozent aller Infizierten möglich machen. Hier hat das Corona-Virus weitgehend seinen Schrecken verloren und man beginnt, die ökonomischen Schäden der Lockdown-Phase zu beseitigen.

Die Instrumente hierfür: Konjunkturprogramme, Öffnung des öffentlichen Raums, der Gastronomie, des Einzelhandels.

Auch in Lateinamerika und dem indischen Subkontinent – hier leben immerhin fast 2 Mrd. Menschen — hebt man Ausgangssperren und Mobilitätseinschränkungen auf. Anders als in Europa und dem restlichen Asien steigen hier jedoch die Fallzahlen. In den drei Staaten des indischen Subkontinents (Indien, Bangladesh und Pakistan) sind trotz Ausgangssperren und unzureichendem Monitoring die Fallzahlen immer weiter gestiegen1. Die überall sonst erfolgreichen Maßnahmen zur Eindämmung funktionieren hier nicht, weil (a) die Regierungen eine widersprüchliche Pandemiestrategie verfolgen und (b) viele Menschen die geforderte soziale Distanzierung gar nicht einhalten können.

Weil die ökonomischen Kosten zu groß werden, heben die Staaten die Einschränkungen auf. Es obliegt den Bewohnern dieser Staaten, individuelle Lösungen zum Umgang mit der Pandemie zu finden. Für viele bedeutet dies eine Inkaufnahme einer Ansteckung.

Die teilweise drastischen Maßnahmen führten insbesondere in Indien nur zur hohen monetären und gesellschaftlichen Kosten. Die Pandemie breitet sich nun in bereits geschwächten Gesellschaften aus. Die Situation entspricht der einer zweiten Infektionswelle. Die übrige Welt beobachtet derweil genau, wie sich das Virus weiter ausbreitet. Schließlich erwarten nicht wenige für den Herbst auch in den Industriestaaten des Nordens eine zweite Infektionswelle.

Hierfür spricht auch ein Blick auf den Corona-Ticker der Johns Hopkins Universität. Dieser zeigt, dass die täglichen Infektionszahlen global immer noch steigen. Das exponentielle Wachstum konnte zwar gestoppt werden. Das Virus ist aktuell jedoch verbreiteter, denn je. Jeden Tag infizieren sich mehr als 100.000 Menschen. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Fallzahlen ohne weitere Maßnahmen einfach abnehmen?

Abbildung 2: COVID-19: Global bestätigte tägliche Neuinfektionen (20.1. - 5.6.2020)

Auch in den USA steigen die Infektionszahlen weiter. Jeden Tag sterben aktuell 1.000 Menschen an COVID-19. Die Pandemie-Entwicklung entspricht damit dem Negativszenario der im Wochenbericht 21 vorgestellten Projektionen. Die USA haben sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt, die zeigen will, dass ökonomische Prosperität auch in einer akuten Pandemiephase möglich ist, dass das Virus in den Alltag eingebaut werden kann, wie Schnupfen und Erkältung.

Stay@Home ist Vergangenheit

Konsum ist die erste Bürgerpflicht im Kapitalismus. Scheinbar befürchten einige, nach drei Monaten Abstinenz könnten die Kunden die Lust am Konsumieren verloren haben. Besser man macht ihnen »unwiderstehliche Angebote«. In Deutschland sinkt die MwSt., alles wird zum Sonderangebot. Flugreisen werden zu absoluten Schnäppchenpeisen angeboten, gleiches gilt für Hotels in Feriendestinationen. Eine (Pauschal)-Urlaubsreise kostet maximal die Hälfte des Vorjahrespreises.

Der Einzelhandel verfolgt eine ähnliche Strategie. In den USA überbieten sich die Läden mit Sonderangeboten. Auch hier gilt die Devise: Umsatz ist König.

Das Ergebnis:

  • Der Bedarf an Personal steigt. Mitarbeiter werden aus dem Zwangsurlaub (USA) oder der Kurzarbeit(Europa) zurückgeholt.
  • Die (abgeschriebene) Lagerware wird abverkauft.
  • Die Erzielung von Gewinnen hat eine geringe Priorität.

Wie man es auch dreht und wendet: Das Wiederhochfahren der Wirtschaft in den Nationalstaaten geht zulasten der Erträge der Unternehmen. Überall fordern die Regierungen jetzt die Gegenleistung für die üppigen Nothilfen und zinslosen Kredite zu Beginn der Pandemie. Auf absehbare Zeit sind die Erträge absolut überschaubar, die Kunden haben die Preismacht.

Diese Entwicklung müsste die Kapitalmärkte eigentlich erschrecken. Gewinnsteigerungen sind auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Im letzten Wochenbericht wies Hieronymus auf den Reifegrad der »Hoffnungsrallye« hin. In der vergangenen Woche legte die Rallye trotzdem sogar noch einen Gang zu.

Die starken Preissteigerungen gehen zu einem Gutteil auf Positionsschieflagen von Hedge-Funds zurück. Morgan Stanley berichtete, dass allein dort beheimatete Hedge-Funds EuroStoxx-Futures im Wert von 40 Mrd. € verkauft hatten (ca. 1,3 Mio. Kontrakte). Deren Laufzeit endet am 17. Juni. Das ungeplante Glattstellen dieser Kontrakte dürfte den EuroStoxx allein um 200 Punkte in die Höhe katapultiert haben.

Finanzmärkte am oberen Preislimit

Angesichts der aktuellen Bewertung der Aktienmärkte geht Hieronymus für die nächsten drei Monate nicht mehr von weiteren Preissteigerungen aus. Allenfalls im Vorfeld des Future-Verfalls könnte es noch zu kleineren Short-Eindeckungen und damit kurzfristig und temporär steigenden Preisen kommen. (Noch) stellt man sich besser nicht gegen den Markttrend.

Spätestens mit Beginn der Q2-Berichtssaison im Juli dürften die aktuellen Marktpreise einem ersten Test unterzogen werden.

Die Woche an den Finanzmärkten

  • Jd.com vor Börsengang in Hongkong.
    Der zweitgrößte chinesische Onlinehändler ist derzeit an der Nasdaq gelistet. Am Freitag begann das Unternehmen eine erste Tranche von 133 Million Aktien an institutionelle Investoren zu veräußern. Die Kapitalerhöhung könnte ein Volumen von 4,3 Millionen US-Dollar umfassen. Die Erstnotierung in Hongkong ist für den 18 Juni vorgesehen. Damit beginnt der langsame (aber nicht geräuschlose) Abschied des Internet-Giganten aus den USA. JD steht an der Spitze einer ganzen Armada chinesischer Technologieunternehmen, die aus Furcht vor einer Ausweitung sino-amerikanischer Spannungen den US-Kapitalmarkt verlassen wollen.
    JD folgt Alibaba, dass bereits 2019 mit ihrer Zweitnotierung nach Hongkong gegangen ist und nun sukzessive seine Präsenz dort ausbaut.

  • Kapitalerhöhungen. Aktiengesellschaften können ihren Kapitalbedarf über (1) Bankkredite, (2) Anleihen und (3) Aktienemissionen decken. Die Einnahme von Eigenkapital (über eine Kaptialerhöhung) ist am kostspieligsten, kann in Stressphasen aber das Überleben sichern. In den letzten Monaten erfolgten diverse Kapitalerhöhungen, viele notgedrungen, aber einige auch zur Finanzierung von Übernahmen.
    Insgesamt zählte Dealogic, ein Finanzinformationsdienstleister, seit dem 1. März 201 Kapitalerhöhungen mit mehr als 50 Mio $ Umfang. Diese Unternehmen nahmen 67 Milliarden US-Dollar frisches Eigenkapital ein. Am Aktivsten waren die USA mit 104 Kapitalerhöhungen, die überwiegend negativ vom Kapitalmarkt aufgenommen wurden, d.h. es gelang den Unternehmen zwar, Kapital einzunehmen, der Aktienkurs sank jedoch vor und nach der Ausgabe neuer Aktien.

  • EZB pumpt 600 Mrd. € in Finanzmärkte.
    Im März hatte die EZB ihre Anleihenaufkäufe im Rahmen eines Notfallprogramms um 750 Mrd.€ aufgestockt. Dies ist nicht genug. Die erwartete Rezession fällt deutlicher aus, als damals erwartet. Deshalb stockt die Zentralbank ihr Anleihenaufkaufprogramm um weitere 600 Mrd. $ auf. Gleichzeitig senkt die EZB ihre Inflationserwartungen auf 0.3 % in 2020 und 0,8 % in 2021. Das Aufkaufprogramm läuft vorerst bis Juni 2021.
    Damit ist erstmal »Ruhe im Karton«. Die Spekulation auf steigende Renditen für italienische oder griechische Staatsanleihen endeten sofort, die Rendite italienischer und griechischer Staatsanleihen sank deutlich.

  • Norwegischer Staatsfonds reduziert Zielrendite für Immobilienstrategie.
    Das Immobilienportfolio hat einen Buchwert von 30 Mrd. $, das seit der Jahrtausendwende aufgebaut wurde. Die erzielte Nettorendite betrug im letzten Jahrzehnt 5,3 % po Jahr (Brutto: 7,7 %). Es stellt eine Diversifizierung für das Aktien- und Beteiligungsportfolio dar und ist entsprechend defensiv ausgerichtet.
    Karsten Kallevig, der CIO für das Immobilienportfolio ist skeptisch, ob diese Rendite haltbar ist. Er sieht den Markt für Bürogebäude vor großen Umwälzungen. Auch bei Einzelhandelsimmobilien sieht er erheblichen Restrukturierungsbedarf.
    Der Staatsfonds fordert von Immobilien im Bestand eine Rendite von 5 % pro Jahr (3 % netto).

  1. Die Johns Hopkins Universität bietet eine animierte Weltkarte mit einer wöchentlichen Entwicklung der Fallzahlen. Derzeit konzentriet sich das Infektionsgeschehen auf die USA, Lateinamerika, Russland und den indischen Subkontinent.