Wochenbericht 22

Kalter Krieg

Altes Thema, neue Eskalation. Die Corona-Pandemie liefert den Großmächten China und USA Munition zur weiteren Eskalation ihrer Konfliktlinien.

(Stuttgart, 30. Mai) Die Pandemie kostet viele Menschenleben, testet die Resilienz der Gesundheitssysteme der Nationalstaaten und stellt die demokratischen Systeme einer extremen Belastungsprobe. Insbesondere katalysiert sie aber gesellschaftliche Prozesse.

Katalyse

Jeder Katalysator benötigt eine gehemmte Reaktion als Startpunkt. Da Wasserstoff derzeit in aller Munde ist: Aus Leckagen ausströmender Wasserstoff bildet mit Luft ein hochexplosives Knallgasgemisch. Trotzdem konnten mit Wasserstoff gefüllte Zeppeline eine ganze Weile sicher weite Strecken zurücklegen. Die Knallgasreaktion findet bei Raumtemperatur nicht statt, solange kein Katalysator zugegen ist (oder ein Funke die Temperatur lokal stark anhebt). Das PlatinFeuerzeug demostriert, wie effizient ein Katalysator eine chemische Reaktion ermöglicht. In dieser Erfindung des 19. Jahrhunderts benutzt man die exotherme Reaktion an der Platinoberfläche zur kontrollierten Verbrennung von Wasserstoff. Manche Katalysatoren werden nur zur Einleitung einer Reaktion benötigt. Dann läuft der Prozess auch dann weiter, wenn der Katalysator längst entfernt oder zerstört wurde.

Übertragen auf die Gesellschaft ist die Wiederherstellung der Macht des chinesischen Reichs der gehemmt ablaufende, übergeordnete Prozess. Die Staaten des Westens haben ein Interesse am Status-Quo und verhindern die spontane Machtentfaltung China’s.

Nun betritt die Pandemie die Weltbühne. Wie der Draht des PlatinFeuerzeugs die Umsetzung des Wasserstoffs zu Wasserdampf, katalysiert die Pandemie bestehende Konflikte zwischen China und der USA. Im übertragenen Sinne setzte der Volkskongress mit der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes für Hongkong eine Dosis Wasserstoff frei. Die Trump-Administration exponierte am Freitag mit der Ankündigung von Sanktionen, Einreiseverboten für Wissenschaftler und der Aberkennung des Sonderstatus für Hongkong den Sauerstoff. Platin ist vorhanden (COVID-19). In den nächsten Monaten wird die Welt sich mit den Folgen (Hitze und Wasser) auseinandersetzen.

Man könnte das Gemisch auch mit einem Streichholz zünden. Das würde dann eine Explosion auslösen und die Umgebung zerstören. Das Ergebnis der katalytischen Reaktion ist ein kalter Krieg.

Der Unterschied zwischen der Gegenwart und Reparaturbestrebungen nach der Finanzkrise ist markant. Im Jahr 2008/9 befanden sich die USA und China in einem konstruktiven Dialog. China war noch keine Konkurrenz für die USA, hatte aber als einziges die Kraft für ein großes Konjunkturprogramm. Aufträge aus China halfen Europa und die USA wesentlich zur Überwindung der Finanzkrise. Heute stehen sich zwei Wirtschaftsblöcke auf Augenhöhe gegenüber. Es unterscheiden sich die Methoden und Ziele der Pandemieeindämmung (Eliminierung des Virus auf der einen, Eindämmung der Infektionsraten und Management der Ausbreitung auf der anderen Seite) und auch die geld- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Die zweigeteilte Welt spiegelt sich sogar an der Preisentwicklung an den Aktienmärkten der beiden Blöcke.

Börsengelistete Unternehmen

Für viele chinesische Unternehmen ist die Notierung an einer US-Börse eine bequeme Art der Kapitalbeschaffung. In den USA findet sich Nachfrage für jede noch so ausgefallene Geschäftsidee. Bisher mussten sich die Firmen nur den US-Bilanzierungs­vor­schriften unterwerfen. Für die Unternehmensgründer ein sehr gutes, für Investoren (bislang) ein eher schlechtes Geschäft: Seit 2017 haben 76 chinesische Unternehmen eine US-Börsennotierung erhalten und 16.6 Mrd. $ erlöst. Der aktuelle Marktpreis ist durchschnittlich 40 % niedriger, als die Erstnotiz.

Gemäß einer überparteilich eingebrachten Gesetzesvorlage müssen die Unternehmen zukünftig nachweisen, nicht vom chinesischen Staat finanziert zu werden, weder direkt noch indirekt. Das fällt gerade den großen Internetkonzernen, wie Alibaba, Tencent, JD oder iQiyi schwer. Alibaba bereitet einen Umzug der Hauptbörsennotierung nach Hongkong vor. Ob dies angesichts der jüngsten Entwicklung weiter verfolgt wird, ist unklar. Möglicherweise ziehen sich die Unternehmen sogar an eine der chinesischen Inlandsbörsen zurück.Selbst eine Verbannung chinesischer Unternehmen von US-Kapital­markt ist inzwischen nicht mehr undenkbar.

Das über die vergangenen Jahre von republikanischer Seite geschürte Mißtrauen gegenüber der chinesischen Staatsspitze aber auch gegenüber chinesischen Unternehmen und zuletzt sogar gegen alle asiatisch aussehenden Menschen trägt auch an den Aktienhandelsplätzen Früchte. Es ist unklar, ob die markanten Preissenkungen bei chinesischen Auslandsaktien fundamental begründet sind oder ob schlicht politisch motiviert Desinvestiert wurde.

Singapore als lachender Dritter?

Der Bedeutungsverlust des Finanzmarkts Hongkong könnte mit der Aberkennung seines Sonderstatutus fortsetzen.

Abbildung 1: Preisverlauf der HSBC(Kongkong) im Vergleich zur DBS (Singapore)

Die Entwicklung kann am Preisverlauf der beiden Großbanken an den Standorten Hongkong und Singapore abgelesen werden. Das Freihandelszentrum Singapore kämpft angesichts der chinesischen Dominanz ebenfalls um seinen Platz. Der Aushandlungsprozess über dessen zukünftiger Rolle ist längst nicht abgeschlossen. Der aktuelle Preistrend der DBS zeigt aber zumindest nach oben. HSBC markiert ein Preistief nach dem nächsten.

Auch Singapore ist von der neuerlichen Eskalation des Wirtschaftskriegs zwischen den USA und China negativ betroffen.

Abbildung 2: Preisentwicklung der größten Unternehmen am Handelsplatz Singapore.(Quelle: Trading Economics)

Ein Blick auf den Kurszettel zeigt überwiegend auf Jahresbasis starke Preisrückgänge. Dies ist teilweise der Pandemie geschuldet, mehrheitlich jedoch ein Ausdruck der Unsicherheit über den zukünftigen Status des Stadtstaats an der Peripherie eines immer imperialer agierenden chinesischen Reichs.

Die Woche an den Finanzmärkten

  • Hoffnungsrallye.
    In der letzten Woche wies Hieronymus auf einen häufig sehr freundlichen Ausklang des Wonnemonats Mai an den Aktienmärkten hin. Zum Monatsende können wir einen Haken an diese Saisonalität machen. Die Aktienmärkte hielten sich an das Skript.
    Die gemeinhin als HoffnungsRallye bezeichnete Preisentwicklung steht jedoch auf tönernen Füßen.

    • Die Aktienmärkte sind teuer. Das Forward PE, also das Kurs-zu-Gewinn-Ver­hältnis auf der Basis der erwarteten Erträge beträgt für S&P 500-Unter­nehmen durchschnittlich 23. Soviel wie zuletzt 2000. An den dies­bezüg­lichen Aussagen im Wochenbericht 17 hat sich nichts geändert, die Überbewertung hat in den ver­gangenen vier Wochen weiter zugenommen.
    • Angesichts absurder Bewertungen bei sog. Krisengewinnern findet man in Sell-Side-Analysen inzwischen Kennzahlen, die auch in der Endphase des Neuen Marktes in den Jahren 1999 bis 2001 Verwendung fanden, beispielsweise KUV: Kurs- zu Umsatzverhältnis anstatt KGV.
    • Die Rallye der letzten Tage wurde im wesentlichen von Privatanlegern getragen. Das geht aus den Handelsstatistiken der Online-Broker hervor. Hier sind ins­besondere spekulative Titel gefragt, beispielsweise Luftfahrt­unternehmen oder Kreuzfahrtanbieter. Ein hoher Partizipationsgrad von Privatanlegern und eine außergewöhnliche Risikobereitschaft dieser Zielgruppe charakterisieren reife Entwicklungen, die bald auslaufen.
    • Trotz der gestiegenen Preise verharrt die Volatilität auf einem hohen Niveau. Institutionelle Marktteilnehmer trauen dem Braten nicht. Sie sind weiterhin bereit, viel Geld für Absicherungen auszugeben. Dies schützt den Markt vor starken Abverkaufswellen.

    Die Saisonalität spricht für stagnierende Notierungen. Trotz diverser warnender Indikationen ist eine scharfe Kurskorrektur in den nächsten Wochen im Ergebnis genauso unwahrscheinlich wie eine ungebremste Rallyefortsetzung. Es deutet vieles auf einen langweiligen Sommerhandel hin, in dem die aktuell überhitzte Marktlage abgebaut wird.

  • Psychologie der Notenbanken.
    Wir erinnern uns: Im Zenit der COVID-Krise intervenierten die Notenbanken mit starken geldpolitischen Maßnahmen. Die US-Notenbank flutete mit einem Strauß von Programmen unterschiedliche Marktsegmente mit Liquidität. Die FED versprach allen potenziellen Verkäufern faire Marktpreise und nahm Investoren die Angst, im Falle einer weiteren Zuspitzung der Krise mangels potenzieller Käufer ihre Assetbestände nicht mehr verkaufen zu können. Hierfür stellte die FED insgesamt 2,6 Billionen US-Dollar bereit.
    Zum Monatsende im Mai wurden gerade 95 Milliarden Dollar abgerufen. Nur 4 % der bereitgestellten Mittel wurde benötigt.
    Mehr noch: US-Unternehmen konnten sich über Anleiheemissionen seit Jahresbeginn mehr als 1 Billion US-Dollar am Kapitalmarkt leihen. Dieses Geld dient den Firmen nun als Liquiditätspolster für Pandemiefolgen. Das ist gegenüber 2019 eine Verdopplung. Dank der jüngsten Zinssenkungen der FED mussten die Unternehmen trotz deutlich schlechterer Bonität keinen Zinsaufschlag gegenüber dem Vorjahr zahlen.
    Die Investoren tragen dank der FED-Interventionen bereitwillig das volle Bonitätsrisiko. Es gelang der US-Notenbank die Pandemierisiken an den Kapitalmarkt weiterzugeben.

  • Stranded Assets — Datteln 4 geht ans Netz.
    Der wohl größte Sündenfall in der, an Widersprüchen nicht armen Klimapolitik der Bundesrepublik wird am ersten Juni Realität: Trotz gesellschaftlichem Konsens über einen raschen Ausstieg aus der Kohleverstromung geht im westfälischen Datteln eine nagelneue Kohlendioxidschleuder ans Netz.
    Die Wahrscheinlichkeit eines planmäßigen und damit profitablem Betrieb des Karftwerks ist überschaubar. Hieronymus würde gern einmal die Renditeberechnung und die eingeräumten Finanzierungskonditionen einsehen und prüfen, ob dem eine nachvollziehbare Klimarisikoeinschätzung zugrundeliegt. Vielleicht ist es Zufall, dass zeitgleich Zentralbanker, die sich im Network for Greening the Financial System unter dem Vorsitz der holländischen Notenbank zusammengetan haben, Banken für die sträfliche Mißachtung von Klimarisiken tadeln.. Der Vorwurf: Die Banken weisen klimabedingte Kreditrisiken systematisch und absichtlich falsch aus. In ihrem Status report on financial institutions’ practices with respect to risk differential between green, non-green and brown financial assets and a potential risk differential weisen die Zentralbanker auf den Stellenwert von Klimarisiken in Bankbilanzen hin. Danach verwenden die meisten Banken und einige Versicherungen im Risikomanagement Bewertungsmethoden, die nicht zwischen braunen und grünen Risiken unterscheiden. Auswirkungen des Klimawandels sind nicht ermittelbar. Diese Banken sind auf diesem Auge sprichwörtlich blind, die Risikomodelle weisen systematisch zu niedrigere Risiken aus..
    Konsequenz: Die Finanzierung von Projekten, wie Datteln 4, negiert auch 2020 systematisch elementare Klimarisiken. Klimarisikenn akkumulieren sich in den Banken ohne Berücksichtigung der Klimaveränderungen. Für diese Fehler müssen ggf. die Gesellschaften (in Form zukünftiger Generationen) geradestehen.