Die nun offiziell eingereichten Aufnahmeanträge von Moldavien, Georgien und der Ukraine in die EU sind die sichtbarsten Zeichen der neuen Rolle des europäischen Staatenbundes als Gegenpol der imperialen Ansprüche Russlands. Die Frage, ob die Staatengemeinschaft sich primär als große Freihandelszone begreift, oder mehr, hat Russland im Februar 2022 stellvertretend für die EU-Mitgliedsstaaten beantwortet.
Jeden Tag importiert Europa Öl + Gas im Wert von 600 Mio. € aus Russland. Das sind 220. Mrd. € im Jahr. Hinzu kommen die Lieferungen von Kohle. Insgesamt importiert die EU Waren und Dienstleistungen über 300 Mrd. € aus Russland (Statistika). Bisher glichen Exporte im Wert von ca. 100 Mrd. € () die Handelsbilanz ein Stückweit aus. Diese Wertschöpfung fehlt nun sanktionsbedingt. Das ist in Relation zum Bruttoinlandsprodukt der EU (14 Billionen Euro) vernachlässigbar.
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Zum Problem wird die Abhängigkeit, weil die Ressourcen des Planeten begrenzt sind.
In der Vergangenheit wäre nun ein Krieg um die Öl- und Gasvorräte in Russland ausgebrochen. Die umfassenden Handelssanktionen sind das moderne Äquivalent hierzu. Sie sollen Russland nebst Alliierten ökonomisch in die Knie zwingen und die Energieversorgung langfristig sichern (Plan A). Es gibt auch einen Plan B: Europa modernisiert sich und wird unabhängig von fossilen Energien.
Die Aggression Russlands hat die Resilienz Europas im Krisenfall in beeindruckender Weise bestätigt. Sie bietet die einmalige Chance, die ambitionierten Klimaziele tatsächlich umzusetzen. Bisher standen diese unter einen Finanzierungsvorbehalt und es gab erhebliche Fragezeichen ob einer sozialverträglichen Umsetzung. Jetzt ist auch dem Letzten klar geworden, dass die sozialen Verwerfungen eines »Weiter So« noch viel heftiger wären.
Willkommen also im Zukunftslabor Europa. Angesichts extremem äußerem Drucks wagt die Industriegesellschaft nichts weniger als eine nachhaltige Revolution. Die Welt schaut zu und lernt.
Es kann auch anders kommen. Stagflation wurde in der vergangenen Woche wiederum zu einer geflügelten Vokabel.
Wie nach dem Ölpreisschock im Jahr 1973 sind wegen konjunktureller Risiken insbesondere der EZB trotz hoher Inflation die Hände für Zinserhöhungen gebunden. Die Folge könnte ein wachsender Verfall des Geldwerts in Abwesenheit adäquaten Wirtschaftswachstums sein. Die Unfähigkeit, die Geldpolitik den Stabilitätskriterien entsprechend zu adjustieren ist in diesem Szenario, wie in den 1970ern, Ursache für gesellschaftlichen und ökonomischen Stillstand.
Perspektiven:
Der globale Lackmustest steht noch bevor. Die Energieprobleme Europas mögen mit pragmatischen Maßnahmen lösbar sein. Die Versorgung Westafrikas mit Getreide ist ohne Lieferungen aus der Ukraine unmöglich.
Der wahrscheinlichste Verlaufspfad des Krieges um die Ukraine ist wohl eine Besetzung durch Russland mit anschließendem – vom Westen finanzierten – Bürgerkrieg. Die Isolation Russlands zementiert die neue Weltordnung. Russland finanziert sich durch Energie-, Metall- und Getreideexporte.
Russland macht die Lieferung dringend benötigter Rohstoffe (natürlich) vom Wohlverhalten der Vertragspartner abhängig. In diesem Szenario rematerialisiert die bipolare Welt: Vermögende Demokratien, die sich eine Kritik der imperialen Politik des Kreml leisten können und einen hybriden Wirtschaftskrieg führen, auf der einen Seite. Staaten, die einen faust’schen Pakt mit Russland schließen müssen, allein um ihre Bevölkerung mit dem Notwendigstem zu versorgen, auf der anderen Seite.
Aus heutiger Sicht hängt es maßgeblich von China und Indien ab, ob diese Perspektive Realität wird.
Zum Wochenschluß notiert der EuroStoxx 50, also die Summe der 50 größten Unternehmen der Eurozone, bei 3.550 Punkten. Die im letzten Wochenbericht anvisierte Auffangzone ist damit fast erreicht.
In normalen Zeiten wäre jetzt der Weg frei für steigende Aktienmarktnotierungen. Auch die Saisonalität macht für die nächsten sechs Wochen den Weg frei für eine Gegenbewegung.
In der vergangenen Woche war der Markt mit der Erfassung von Geschäfts- und Konjunkturrisiken beschäftigt. Die Dynamik des Ausverkaufs stieg bis zum Wochenende stetig an. Außer der Saisonalität (und der klar überverkauften Lage) spricht allerdings nichts für ein Ende des dynamischen Ausverkaufs.
Im Gegenteil. Im Stundentakt gehen immer noch Meldungen börsennotierter Unternehmen ein, die über Verflechtungen mit Russland aufklären, sei es, dass sie von Zulieferen abhängen, dorthin exportieren oder dort sogar Produktions- oder Verkaufsstätten betreiben. Während diese Zeilen entstehen, erscheint die AdHoc-Meldung, dass Inditex, die größte Modekette Europas 420 Läden und 82 Zara-Outlets und auch das Onlinegeschäft vorläufig schließen muss. Das reißt ein Loch von 8,5 Prozent in den Konzernumsatz. Die Kosten der Schließung und ggf. Wiedereröffnung sind hierin nicht enthalten, ebensowenig der Totalverlust der in Russland gestrandeten Waren.
Erst wenn diese Hiobsbotschaften abreißen, kann sich der Markt stabilisieren.
Unmittelbare Folge der Sanktionen ist die Aussetzung des Wertpapierhandels in Moskau. Selbst nach einer Wiedereröffnung des Handels ist es Ausländern verboten, russische Aktien oder Anleihen zu veräußern. Wer seine Bestände nicht rechtzeitig abgestoßen hat, muss die Titel als Totalverlust buchen und hoffen, dass der internationale Handel irgendwann wieder aufgenommen wird.
Indexbetreiber sind radikaler. S&P kündigte an, am Mittwoch sämtliche russische Titel in allen Indizes als Totalverlust auszubuchen.
Zum Jahreswechsel 2021/22 wies die Börse in Moskau die Bestände ausländischer Investoren aus:
In der Summe ist die Finanzindustrie mit ähnlich hohen Ausfällen konfrontiert, wie die Exportindustrie. Auch hier sind die Auswirkungen überschaubar. Aktuell sind Investmentfonds im Wert von 4 Milliarden Dollar vom Handel ausgesetzt. Nur Prosperity Capital Management, ein auf Russland spezialisierter Hedgefund steht vor dem Kollaps.
Wegen der Sanktionen können weder Dividenden noch Kupons ausgezahlt werden. Russische Fremdwährungsanleihen können sanktionsbedingt physisch gar nicht mehr getilgt werden.
Einige aktiv gemanagte Fonds sind wegen hoher Bestände russischer Unternehmen vom Handel ausgesetzt. Die meisten ETF’s sind aber weiter verfügbar. Deren Preisbildung erfolgt ausschließlich gemäß Angebot und Nachfrage. Hier darf fleißig auf ein Ende des Konflikts und eine Aussetzung der Sanktionen spekuliert werden.
Es überrascht nicht wirklich, dass die Deutsche Bank wieder besonders betroffen ist. Diesmal ist es nicht – wie 1998 – ein großer Bestand russischer Wertpapiere, der als Collateral akzeptiert wurde. 2022 fällt der Bank ein Managementfehler aus dem Jahr 2008 vor die Füße. Damals entschied man, Teile der IT nach Moskau outzusourcen. Dort wird die interne Handelssoftware inklusive des Marketmaking entwickelt und gewartet. Die Bafin hatte mehrfach auf die Abhängigkeit und geopolitische Risiken hingewiesen. Nun ist die Not groß – und die mühsam aufgebaute Restreputation wieder futsch.
Die russische Kopie von Google ist auf besondere Weise von dem Fallout der internationalen Sanktionen betroffen. Das Unternehmen war auf strammen West-Kurs und wurde unsanft mitten in seiner Expansionsphase ausgebremst. Es in Kooperationen mit Uber einen privaten Taxidienst aufgebaut, war sehr erfolgreich in das Liefergeschäft eingestiegen, entwickelte in den USA autonome Roboter für die letzte Meile und wollte in Deutschland Clouddienstleistungen anbieten. Das Unternehmen kopierte den Führungsstil des Silicon-Valleys, die Angestellten erhalten wesentliche Anteile ihres Gehalts als Mitarbeiteraktien.
Es liegt in der Natur der Sache, dass man die Realität nicht vor Mitarbeitern einer Suchmaschine verdrehen kann. Die FT berichtet von einem massiven Brain-Drain und deutsche Reporter von massiv gestiegener Emigration. Die Suchmaschine ist Teil der Kriegspropaganda des Kremls.
In der vergangenen Woche sank der Börsenwert um 75 Prozent. Wie lange das Unternehmen zu seinen westlichen Werten stehen kann, ob es je wieder die internationale Bühne betreten wird, steht in den Sternen.
Seit 2018 übersteigt die Wertschöpfung in Korea die Japans. Dessen Brottoinlandsprodukt stagniert seit 1990, Korea dagegen boomt seitdem. Jetzt wollen kritische Stimmen nicht mehr verstummen. Korea könnte den japanischen Entwicklungspfad mit einer Verzögerung von 40 Jahren einschlagen.
Dir Kritiker weisen auf die Statistik. Seit 1990 sinkt die Anzahl der Erwerbstätigen in Japan, in Korea kippt die Demographie gerade. Wie im Japan der 1980er boomt der Immobilienmarkt. Die Frage, wie den starken Preissprüngen für Immobilien begegnet werden kann, ist Hauptthema im derzeitigen Wahlkampf. Wie woanders auch, hat die Nullzinspolitik der Notenbank zu einer Blasenbildung geführt. Der kumulierte Immobilienwert des Landes entspricht dem fünffachen Bruttoinlandsprodukt. (Japan 1989: 5,4). Die kumulierte Haushaltsverschuldung beträgt 104 % des GDP (Deutschland; 58 %, USA: 79 %). Die Unternehensverschultung erreicht 114 %, eine direkte Folge der ewigen Nullzinspolitik.
Die Hälfte der privaten Verschuldung erfolgte zu variablen Zinsen. Mindestens die Haushaltsverschuldung ist damit stark zinssensitiv. Die koreanische Notenbank ist in die Bestrebungen der Regierung eingespannt, den Immobilienmarkt abzukühlen. Ergebnis: In Erwartung eines anhalten Zinsanstiegs steigen Immobilienzinsen jetzt viel schneller, als die Leitzinsen. Wer nun umschulden muss, zahlt deutlich mehr. Die verfügbare Liquidität sinkt in diesem Umfeld rasch, die Gefahr einer »harten Landung«, wie in Japan, steigt.
Die Ökonomen des Landes haben die Entwicklung Japans sehr gut im Blick. Kaum denkbar also, dass sich die Geschichte wiederholt. Es wäre aber vermessen, auf dem aktuellen Niveau steigende Assetpreise zu antizipieren. Dazu arbeiten zu viele Kräfte an einer kontrollierten Abkühlung der Ökonomie.
Dieser Ausflug nach Asien erinnert uns an ökonomische Risiken jenseits der akuten geopolitischen Herausforderung. Selbst wenn es gelingt, den gordischen Knoten um die Ukraine zu entwirren, muss die Welt mit unerwünschten Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung klarkommen.
Trotz der unausgegelichenen Handelsbilanz ist Russland möglicherweie härter von den Sanktionen betroffen, als Europa. Der Econmist weist darauf hin, dass trotz aller Anstrenungen, von Importen unabhängig zu werden, 30 Prozent aller Konsumgüter Russlands eingeführt werden. Der gesellschaftliche Druck auf das Putin-Regime könne somit schneller steigen, als aktuell erkennbar. ↩