Inflation ist Ausdruck eines Ungleichgewichts des Produkts von Geldmenge und dessen Umlaufgeschwindigkeit in Relation zur Produktion von Waren und Dienstleistungen (Qualitätsgleichung). Elementare Konsequenz: In einer Rezession (Abnahme der Produktion) kann eine Zentralbank die Geldmenge erhöhen, ohne einen Preisdruck befürchten zu müssen. Monetarismus und Keynesianismus sind direkte Konsequenzen der Qualitätsgleichung. Andersherum: Gilt die Qualitätsgleichung nicht, sind tiefere gesellschaftliche Probleme preisbestimmend.
Die Pandemie hat Indien besonders stark getroffen. Um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, schickte die Regierung das Land ab dem 24. März 2020 in einen harten LockDown. Dieser wurde in modifizierter Form bis zum 30 Mai durchgehalten. Danach begann, trotz weiterhin exponentiell steigender Fallzahlen, die Phase des Un-Lock, die immer noch anhält. Anders als in den Industriestaaten, überließ die Regierung mangels finanzieller Mittel die Bevölkerung sich selbst. Wer über Rücklagen verfügte, einen Bürojob hatte und über eine eigene Immobile verfügte, überstand die Phase einigermaßen. Wer zur Miete wohnte, nicht von zu Hause arbeiten konnte und arm war, dessen Existenz wurde auf eine sehr harte Probe gestellt.
Der LockDown brachte die Wirtschaft zum Stillstand, nicht das Virus. In den Slums der Mega-Cities wurde im Sommer 2020 eine Herdenimmunität erreicht. Seitdem sinken die Fallzahlen. Angesichts der hochansteckenden Mutationen ist die Angst groß, dass sich der gesamte Zyklus wiederholt, sei es, dass die Menschen ihre Immunität verloren haben oder weil Mutationen eine Reinfektion ermöglichen. Die ökonomische Bilanz des Jahres 2020: Minus 10 Prozent Wirtschaftswachstum (IMF-Prognose)1.
Nun das Paradoxon: Wer aktuell in den Städten einkauft, muss für Gemüse manchmal das Doppelte oder Dreifache zahlen (etwa bei Tomaten) als vor einem Jahr. Aber auch Bekleidung ist gut 20 Prozent teurer als vor der Pandemie2.
Indien zeigt was passiert, wenn man eine hohe Infektionsrate zulässt3.
Es sind schon besondere Rahmenbedingungen erforderlich, um während einer Rezession eine Inflation zu züchten.4 Im vorangegangenen Wochenbericht wies Hieronymus auf Spannungen im indischen Bankensektor hin. Als Konsequenz ist Liquidität ein knappes Gut. Zudem hat die indische Notenbank den Leitzins zuletzt im Mai 2020 »nur« auf 4% gesenkt und dem Impuls einer deutlichen Lockerung der Geldpolitik nach westlichem Vorbild widerstanden. Die landesweite Inflation ist trotzdem bis Oktober 2020 auf 7,6 Prozent angesprungen. Wenn die Geldmenge offensichtlich knapp ist und Produzenten wie Verbraucher gleichermaßen pandemiebedingt ihre Aktivitäten zurückfahren, was ist dann der Grund steigender Preise?
Heißester Kandidat für den preisbestimmenden Engpass in der Wertschöpfungskette ist der desolate Transportsektor. Es fehlt an Transportkapazitäten und einer leistungsfähigen Infrastruktur, die Waren und Arbeitskräfte effizient dorthin bringen, wo Nachfrage besteht.
Wenn zu wenig Arbeitskräfte für die Feldarbeiten bereit stehen, sinkt die Erntemenge; der Preis steigt selbst bei rezessiv bedingt, sinkender Nachfrage. Zusätzlich treiben gestiegene Transportkosten die Preise allgemein in die Höhe.
Nun hat die Regierung eine ambitionierte landesweite Impfkampagne gestartet, die in der restlichen Bevölkerung (außerhalb der Slums) eine Herdenimmunität gewährleisten soll, bevor die Mutationen zuschlagen. Hierbei wird die Bevölkerung mit dem preiswerten (und weder in den USA noch in der EU zugelassenen) AstraZenica-Impfserum und einer kaum getesteten Eigenentwicklung geimpft. Die Impfbereitschaft ist ähnlich gering, wie die in Russland.
Trotz dieser ungewissen Gemengelage feiert der indische Aktienmarkt einen Rekord nach den Nächsten. Seit März 2020 haben sich die Notierungen am Sensex fast verdoppelt (von 27.000 auf aktuell 50.000 Punkte). Diese Entwicklung steht weder im Einklang mit der knappen Geldmenge im Land noch reflektiert sie die tatsächlich ökonomische Entwicklung; sie stützt aber die Hypothese, dass Inflationserwartungen die Märkte im Griff haben.
Objektiv betrachtet, unterscheiden sich die Krisenmanagements in den USA und Indien nur wenig. In beiden Ländern prägen große Gegensätze zwischen Stadt und Land die Gesellschaften. Aus unterschiedlichen Gründen hat man die Ausbreitung des Virus toleriert. Indien ist der epidemiologischen Entwicklung in den USA ein halbes Jahr voraus. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der aktuelle Inflationspfad Indiens zeitverzögert auf die Industriestaaten zukommt.
In der letzten Woche fragte Gilian Tett in der FT provokant: “Was war die am Besten performende Assetklasse des Jahres 2020?”
Die Antwort ist nicht “Technologieaktien” oder gar “BitCoins”, nein es waren variabel verzinste US-Anleihen (sog. Linker). Diese Papiere werden als Inflations-Hedge eingesetzt. 2020 lieferten sie eine Rendite von 34 Prozent.
Tatsächlich lag die Inflationsrate in den USA stabil unterhalb von zwei Prozent. Allein die FED signalisierte, dass sie einem Überschießen dieses selbst gesetzten Inflationsziels tatenlos zuschauen würde. Die Nachfrage nach Linkern zeigt, dass institutionelle Anleger dies Ernst nehmen und sich auf ein Inflationsszenario vorbereiten. Die Nachfrage nach Linkern war im gesamten Jahr 2020 außergewöhnlich hoch.
Die Ursachen für eine inflationäre Entwicklung in beiden Ländern könnten unterschiedlicher nicht sein. Trotzdem könnte das Ergebnis weitgehend identisch sein.
Eine Divergenz zwischen der Preisentwicklung der Aktienmärkte in den USA und Indien ist ein Frühindikator für das Inflationsszenario. Indien ist den USA in der Pandemiebekämpfung einige Monate voraus.
Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten sind sehr häufig Folgen anhaltender Fehlbepreisungen ganzer Assetklassen.
Die Bank of Japan setzt das Instrument »Anleihenaufkäufe« seit der Jahrtausendwende erfolgreich zur Kontrolle der Zinsstrukturkurve ein. In den Anfangsjahren holten sich Spekulanten sich immer wieder eine blutige Nase, wenn sie mit wohlfeilen Argumenten gegen die Notenbanken antraten.
Inzwischen versucht niemand mehr, die geldpolitschen Maßnahmen der Notenbanken in Frage zu stellen. Hieronymus erinnert dies sehr an eine Schlüsselszene im Spielfilm »The Big Short«. “Niemand wettet gegen den US-Hypothekenmarkt, der wird durch Fanny Mae und Freddy Mac, zwei halbstaatliche Institutionen, und damit von Uncle Sam persönlich gestützt,” rufen die Vertreter von Investmentbanken dem Protagonisten und Fondsmanager zu, als er versucht, eine Wette auf Zinserhöhungen am Hypothekenmarkt zu platzieren. Tatsächlich genügte bereits eine geringe Veränderungen in der Zinsstrukturkurve, um das Kartenhaus einstürzen zu lassen.
Die zukünftige US-Finanzministerin nimmt ihr Amt mit vielen Vorschußlorbeeren auf: es wäre nicht das erste Mal, das quasi aus dem Nichts eine Krise als Mega-Bewährungsprobe Realität würde.
Wenn Transportpreise einen wesentlichen Faktor bei der Entfaltung von Inflation in Indien darstellen, müssen bei der Betrachtung der Entwicklung von Frachtkosten für Container alle Warnglocken klingeln. Allein in den vergangenen zwei Monaten haben sich die Frachtkosten für den Warenverkehr zwischen China und den USA verdreifacht. Gut – dies kann mit einer zufälligen Fehlallokation von Gütern und Transportmitteln begründet werden, die sich rasch egalisiert. Merkwürdig ist aber, dass zeitgleich die Preise für Prozessoren für Automobile mangels ausreichender Produktionskapazitäten explodieren. Wegen pandemiebedingter Minenschließungen in Südamerika und Afrika sind zahlreiche Metalle deutlich teurer geworden. Auch Getreidefutures ziehen an. Hier ist der überstandene Ausbruch der Schweinepest in China die augenscheinliche Ursache. Singulär kann jede Entwicklung gut begründet werden und als temporäre Erscheinung ad-acta gelegt werden. In der Gesamtsicht hingegen addieren sich die Entwicklungen zu einer »Cost Push Inflation«, einer Inflation, die mit steigenden Preisen am Beginn der Wertschöpfungsketten einhergeht.
Ab der zweiten Jahreshälfte rechnen viele mit einer deutlichen Entspannung an der Pandemiefront. Dann können die Menschen überall wieder restriktionsfrei leben, so die Spekulation. Kunst, Kultur, Tourismus, Restaurants, usw. sollen dann eine Boomphase erleben. Gleichzeitig könnte das Bedürfnis nach Konsum und Luxus steigen, Geld ist schließlich kein Problem, behaupten die Potagonisten dieser kühnen These.
Bereits die begründete Erwartung einer signifikanten Ausweitung der Nachfrageseite wird im aktuellen Kapitalmarktumfeld als Inflationsindikation ausgelegt.
Da die Notenbanken die Zinsstrukturkurven kontrollieren, können Inflationserwartungen nicht am Anleihemarkt abgebildet werden. Die Marktteilnehmer weichen auf weniger liquide Proxy-Marktsegmente auf um ihre Erwartungen in ihren Portfolien abzubilden. Die überraschende Performance der Linker ist dieser Entwicklung geschuldet. Falls sich die Inflationsgefahren konkretisieren, ist mit hoher Volatilität in weiteren Marktsegementen zu rechnen, die auf den Gesamtmarkt ausstrahlt.
Konsequenz des Inflationsparadoxons: Aktienmärkte dürften spätestens in der zweiten Jahreshälfte volatil auf der Stelle treten. Zinssensible Sektoren sind dann zu meiden.
Interessant: Egal aus welchem Blickwinkel man Kapitalmarktperspektiven angeht, für den weiteren Jahresverlauf stehen eher geringe Preisimpulse auf der Agenda.
Selten divergieren die Meinungen der Auguren über die kurzfristige Preisentwicklung an den Aktienmärkten, wie aktuell.
Die Kollegen vom Sentix haben sich beispielsweise öffentlich komplett auf die Short-Seite begeben. Sie weisen (nicht zu unrecht) auf Parallelen zum Februar 2020 hin.
Damals bildeten die US-Aktienmärkte trotz der unübersehbaren Pandemieentwicklung in China neue Allzeithochs aus. Man spekulierte massiv auf eine Wiederwahl des damaligen Präsidenten.
Heute ist die Aussicht rasche Normalisierung des Lebens nach einer zügigen Impfung der Weltbevölkerung wesentliche Triebkraft der Marktpreisentwicklung. Nicht wenige entdecken die Pandemie als Katalysator für allerlei positive Entwicklungen. Pandemiefolgen eigenen sich hervorragend als Projektionsfläche eigener Präferenzen.
Das riecht förmlich nach Spekulationsblasen, so die Skeptiker.
Auf der anderen Seite feuert eine ganze Armada von Verkäufern von Fonds, spekulativen Handelsprodukten (Zertifikate, Optionsscheine) und von Unternehmen beauftragte Banken Privatanleger zum Aufbau von Risikopositionen an.
Dies zeigt Wirkung: The Full Bull ist immer noch nicht müde. Im Gegenteil, die Aufnahme der Amtsgeschäfte der Biden-Administration hat nochmals die strategische Marktverfassung verbessert. Glaubt man den veröffentlichten Sentimentbefragungen, warten viele auf einen kleinen Rücksetzer um ihre Frühjahrswetten zu platzieren. Die zum Wochenende leicht gesunkenen Marktpreise erzeugen in dieser Anlegergruppe Optimismus.
Wir segeln mit mäßiger Beflaggung mit dem Wind, es ist nicht beabsichtigt, die Risiken auszubauen.
Die Prosus-Aktie wurde in der vergangen Woche erstmals über 100 € gehandelt. Konkreter Anlass des jüngsten Preissprungs über 10 Prozent ist das gerade implementierte Aktienrückkaufprogramm. Vom 11. bis 15. Januar nahm die Gesellschaft zum Preis von 90,18 € insgesamt 1,26 Mio. Aktien vom Markt.
Zeitgleich veröffentlichte das Management den Ausbau seiner Agrarbeteiligungen in Indien. Offenbar hat man das Thema Landwirtschaft der Zukunft zu einem neuen Kerninvestment erkoren. Hieronymus begrüßt dies sehr, da eine Revolution der Landwirtschaft eine zentrale Zukunftsaufgabe ist. Wir können es uns schlicht nicht leisten, die Menschheit mit kaum modifizierten Methoden der Jungsteinzeit ernähren zu wollen.
Die jüngsten Verfügbaren Wachstumsdaten aus Indien: (2020) + 3,1 %, Q2: -23,9 %, Q3: -7,5 % ; Quelle: Trading Economics ↩
Quelle; India shoppers bear brunt of inflation paradox during crisis, Financial Times, 21.01.2021 ↩
Diese negativen Seiteneffekte sind auf besonders anschauliche Weise im Vortrag von Viola Priesemann anläßlich des populären Europe-Calling Weblinars des Europaabgeordneten Sven Giegold dargestellt (YouTube-Aufzeichnung) . ↩
Eine Inflationsentwicklung im Angesicht einer tiefen Rezession ist mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte stets ein Vorbote größerer Zäsuren. Man schaue sich nur die Nachwirkungen der Hyperinflation in der Weimarer Republik, die Entwicklungen in Simbabwe oder in Venezuela an. Eine weitere, ebenso unangeneheme gesellschaftliche Perpektive ist die Ausbildung von Stagflation. ↩